Acacia 02 - Die fernen Lande
dem war nicht mehr so. Die Schäden durch den Krieg und die Magie der Santoth hatten die Ebene von Talay verdorren lassen. Und irgendetwas hatte die Winde verändert. Jetzt wehte eine glühend heiße Brise von der Ebene her und ließ die Meeresfeuchtigkeit verdunsten, bevor sie das Land erreichte. Das bisschen, was an Dunst vorhanden war, sagte man in Bocoum, hing vor der Küste wie eine trügerische Luftspiegelung, die jeden Morgen erschien, aber niemals näherkam. Die Ernten des Nordens waren Jahr um Jahr mehr dahingewelkt, und dieser Sommer schien der bisher trockenste zu werden. Selbst die Quecken – normalerweise so wetterhart – waren zu Stroh geworden. Sie gingen in Flammen auf und nährten Flächenbrände, deren Rauch den Himmel schwärzte.
Als die Händler das letzte Mal in Bocoum angelegt hatten, stellten sie fest, dass die Talayen wenig zu tauschen hatten. Und statt zu feilschen, mussten die Händler sich gegen Übergriffe hungernder, verzweifelter Bauern und Stadtbewohner zur Wehr setzen. Wenn man bedachte, wie die Meeresströmungen den Seehandel um das Herz des Imperiums herumwirbelten, so hatte dieser Bruch in der Handelskette weitreichende Auswirkungen.
Wer hätte gedacht, dass Wassermangel an einem Ort das Gedeihen von Nationen beeinträchtigen würde, die Hunderte von Meilen entfernt waren? Dieses Problem war, wie Corinn sehr wohl wusste, eine weitaus größere Bedrohung als jedes der Übeldinge, auf die ihre Schwester Jagd machte. Es erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit, und jetzt war sie bereit, ihm diese Aufmerksamkeit zu widmen. Ihre Antwort war wirklich ganz einfach; sie wurzelte in einem Grundbedürfnis und in ihrer neuen Fähigkeit, Geschenke zu verteilen wie kein anderes lebendes Wesen. Wenn das, was sie geplant hatte, so gelingen würde, wie sie glaubte, würden die Menschen in Talay bestimmt einen anderen Namen für sie finden. Einen Namen voller Lobpreisung. Vielleicht würde sie sich den Namen selbst ausdenken und ihn den Menschen einflüstern lassen, bis sie ihn aufnahmen. Sie würde sie glauben lassen, sie hätten ihn sich selbst ausgedacht. Im Vergeben von Namen lag Macht, davon war sie mittlerweile überzeugt, große Macht.
Sie hörte den Klang der Knochenflöte, mit der ihre Türwachen Neuankömmlinge ankündigten – zwei Töne, also war es ihre Sekretärin Rhrenna, eine Verwandte von Hanish Mein, die ihr während ihrer Gefangenschaft am Hof der Mein so etwas wie eine Freundin gewesen war. Corinn zog sie Rialus Neptos vor, dem zweiten Überbleibsel ihres vorherigen Lebens, mit dem sie nicht verwandt war. Gewiss, Neptos war in vielen Belangen ihr Vertrauter, doch sie ertrug es nicht, ihn zu oft um sich zu haben. Es behagte ihr viel mehr, dass eine so vertrauliche Position von einer Frau bekleidet wurde, noch dazu von einer Frau, die ihr eindeutig etwas schuldig war.
Nach ihrem plötzlichen Aufstieg zur Macht hatte Corinn geglaubt, Rhrenna sei bei dem Massaker an den Mein getötet worden, das sie mithilfe der Numrek in Gang gesetzt hatte. Erst mehrere Wochen später war die junge Frau gefunden worden; sie hatte sich mit einigen ihrer Zofen an Bord eines Handelsschiffs vor der aushenischen Küste versteckt. Als Rhrenna nach Acacia zurückgebracht worden war, hatte Corinn sie mit einem Gefühl willkommen geheißen, das irgendwo zwischen ehrlicher Zuneigung und Erleichterung lag. Es war gut zu wissen, dass nicht alle, die sie zum Tode verurteilt hatte, für immer verloren waren. Das gab ihr die Möglichkeit, jemanden zu begnadigen, und genau das brauchte sie.
Rhrenna kam herein. Sie war blass und schlank und von feinknochigem Liebreiz, doch sie sah so aus, als nähre der Reichtum Acacias sie nicht so, wie man es vielleicht erwarten mochte. Ihre Stimme klang angenehm, und sie konnte gut singen, wozu sie bei späten Banketten oft aufgefordert wurde. »Entschuldigt, Euer Majestät, aber Ihr habt Besuch. Sire Dagon und Sire Neen von der Gilde wünschen eine kurze Audienz.«
»Dagon und Neen? Ich wusste gar nicht, dass sie auf der Insel sind.«
»Sie sind gerade erst angekommen. Sie bitten um Vergebung, aber sie schwören, dass es dringend ist.«
Dem Brauch nach hätten die Vertreter der Gilde wenigstens drei Tage im Voraus offiziell um ein Treffen bitten müssen. So gern Corinn sie auch abgewiesen hätte, wusste sie doch, dass sie sich dann fragen würde, was sie so dringend hierhergeführt hatte. Sie würde ihre Zeit damit verbringen, darüber nachzugrübeln. Es war besser, sie
Weitere Kostenlose Bücher