Acacia 02 - Die fernen Lande
Akaran, du bist ein Gefangener jener Kinder, die deine Familie in die Sklaverei geschickt hat. Wir sind erwachsen geworden. Wir bleiben nicht für immer Kinder. In den kommenden Tagen werden wir entscheiden, was wir mit dir machen. Manche glauben, du bist hier, um uns zu retten. Einige wissen es besser. Aber die Ältesten des Freien Volkes sind geduldig und gerecht. Du wirst geprüft werden. Vielleicht werden wir feststellen, dass du irgendeinen Wert hast, auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber wenn du für uns nicht von Nutzen sein kannst, wirst du die Erde nähren, und niemand hier wird deswegen eine Träne vergießen. Das ist alles, was ich dir im Moment zu sagen habe.«
Mit diesen Worten sprang Mór von ihrem Schemel auf, sodass er krachend umfiel. Sie drehte sich um und war schon halb draußen, ehe Dariel etwas sagen konnte.
»Warte!«
Mór blieb abrupt stehen.
»Ich werde mir alles anhören«, fuhr Dariel fort. »Dann prüft mich also, wenn das mein Schicksal ist. Tötet mich danach, wenn ihr wollt, aber lasst mich nicht unwissend sterben. Du wirst mich nicht verstehen, aber ich weiß, dass ich halb blind auf der Welt herumgelaufen bin – mehr, als du es dir überhaupt vorstellen kannst. So war das bei meinem Volk, aber so muss es nicht weitergehen. Mein Bruder, wenn er leben würde und dir begegnet wäre – er hätte um dasselbe gebeten. Aber er ist nicht hier. Ich bin hier. Also erzähl mir alles, an seiner statt. Bitte.«
»Es würde ein Leben lang dauern, deine Unwissenheit auszulöschen.«
»Ich bin nicht der einzige Unwissende in diesem Raum.«
Mór riss den Kopf herum. »Du verlegst dich also auf Beleidigungen?«
»Ich folge nur deinem Beispiel«, scherzte Dariel. »Du warst noch ein Kind, als du fortgegangen bist …«
»Als ich verschleppt wurde, nicht als ich fortgegangen bin.«
Dariel gab ihr mit einem kurzen Nicken recht. »Als du verschleppt wurdest. Das ist wahr, was dich angeht. Das trifft auf alle menschlichen Wesen in Ushen Brae zu. Du weißt nichts von der Bekannten Welt, nicht mehr, als ein Kind weiß.«
»Generationen des Volkes sind hier alt geworden, haben hier gelebt und sind hier gestorben.«
»Ja, aber das Volk weiß nie mehr über die Bekannte Welt als das, was sieben- oder achtjährige Kinder ihm erzählen können. Gut möglich, dass ihr alt und auf eure Art weise werdet, ja, aber ihr wisst kaum etwas über Acacia.«
Mór versetzte dem Schemel, der ihr im Weg war, einen Tritt. Er flog nur ein paar Zoll an Dariels Kopf vorbei und krachte auf den Boden.
Dariel kämpfte gegen Wut und Enttäuschung an. »Wir sollten miteinander reden und nicht aufeinander losgehen. Ich will wissen, wie das Leben hier ist. Ich will wissen, was im Namen der Akarans geschehen ist. Auch ich habe das alles geerbt – genau wie du. Die Tatsache, dass wir einander nicht kennen, hat es möglich gemacht, dass dieses Verbrechen immer weitergehen konnte.«
»Wie erbärmlich von dir, jetzt zu behaupten, dass du uns helfen willst. Jetzt, wo du nichts weiter bist als …«
»Mór, ich habe jahrelang mit dem Wissen gelebt, dass im Herzen des Reiches, über das meine Familie herrscht, etwas faul ist. Manches davon habe ich gewusst, aber nicht alles. Erzähl mir alles. Zeig es mir. Und ich werde dir alles über die Welt erzählen, aus der du gekommen bist, was ich kann.«
»Ganz bestimmt wirst du das tun«. In Mórs Worten schwang eine unverhüllte Drohung mit. Dieses Mal drehte sie sich um und verließ den Raum, ehe Dariel die Worte oder den Mut finden konnte, sie aufzuhalten.
An den folgenden Tagen begann die Prüfung. Dabei ging es nicht in erster Linie darum, sich einer bestimmten Herausforderung zu stellen. Nein, die Prüfung war ganz anders als alle anderen, die er jemals mitgemacht hatte. Es ging darum, sich so weit wie möglich zu öffnen und zu geben, zu geben, zu geben. Laut Mór wollten die Ältesten ihn hinsichtlich seines Angebots, sie über die Bekannte Welt zu unterrichten, beim Wort nehmen. Sie wollten alles über das Land wissen, das sie in die Sklaverei verkauft hatte.
Anfangs zögerte er, war sich nicht sicher, ob er womöglich sein eigenes Volk verriet. Andererseits hatte er selbst um dies hier gebeten. Zumindest um die Hälfte davon. Manchmal befragte ihn Mór, was Dariel als gleichermaßen anregend wie beunruhigend empfand, doch sie hatte andere Aufgaben, die sie manchmal tagelang beschäftigten. Dagegen bestimmte Skylene den Ablauf seiner Tage wesentlich
Weitere Kostenlose Bücher