Acacia 02 - Die fernen Lande
spüren konnte, und gerade so viel mit der Schneide, dass er spürte, wie seine Haut kurz vor dem Aufplatzen war. Ihr kleines Gesicht war ganz nahe bei seinem Kinn, und sie fletschte die Zähne, als wolle sie ihn nicht nur aufschlitzen, sondern ihn auch noch beißen. Auch dies hatte er erwartet, aber es geschah mit solcher Wildheit, dass es ihm erneut den Atem verschlug.
»Erklärt Euch jetzt, Dagon«, sagte Corinn. Sie stand nur einen Schritt entfernt, denn der Raum war klein, mehr ein Spalt in einer Höhle als ein von Menschenhand geschaffenes Gemach. Von oben beleuchtet, teilweise Licht und teilweise Schatten, sah die Königin furchterregend aus. Dagon hatte kein Problem, ihr Zauberei zuzutrauen. »Rhrenna hat Euch noch nie leiden können«, sagte sie. »Sie würde Euch die Kehle aufschlitzen und in dem Blutschwall baden, den das mit sich bringen würde. Und in Anbetracht der Tatsache, dass Ihr uns in ein geheimes Zimmer geschoben habt – ein Zimmer, von dem Ihr nichts wissen dürftet –, würde ich ihr mit Freuden vergeben und den Gildenmann verfluchen, der mich herausfordert.«
Ein paar weitere Atemzüge. Dies alles war so peinlich, aber um es zu überstehen musste er es überstehen. Und die beste Möglichkeit, das zu tun, war, sie so hart zu treffen, dass es ihr die Sprache verschlug; dann hätte er wieder etwas mehr Kontrolle über das Ganze. »Königin Corinn« – er keuchte –, »als Erstes müsst Ihr erfahren, dass Sire Neen und viele der Gesandten getötet wurden. Ah …« Er zuckte zusammen, als sich der Druck der Messerklinge änderte, griff nach dem Delphin-Anhänger, der ihm auf der Brust hing – das Symbol der Gilde –, und streichelte ihn. »Die Mission ist fehlgeschlagen. Wir sind auf übelste Weise verraten worden. In eben diesem Augenblick befinden sich Verräter im Innern des Palasts. Bitte, sagt dieser Frau, sie soll das Messer wegnehmen.«
Corinn ging nicht auf seine Bitte ein. »Was ist mit meinem Bruder?«
»Ich weiß es nicht«, gab Sire Dagon zu.
»Lebt er noch?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wurde er gefangen genommen. Er hat natürlich voll und ganz unter unserem Schutz gestanden, aber wie schon gesagt, er wurde verraten. Wir glauben …«
»Von wem?«
»Von den Lothan Aklun. Von den Auldek. Von beiden. Als wir angekommen sind, mussten wir feststellen, dass sie Krieg gegeneinander führten. Beide Seiten haben versucht, uns für ihre Zwecke zu benutzen. Haben uns hereingelegt. Es hat ein Massaker gegeben. Und, was in diesem Augenblick am wichtigsten ist, Euer Majestät: Die Numrek haben uns verraten.«
Corinn stand ganz still. Lange sah sie aus wie eine schöne, blutleere Hexe, die Art von Wesen, die die Träume Heranwachsender heimsuchen und in Albträume verwandeln konnten. Ein paar Augenblicke lang befürchtete Sire Dagon, versagt zu haben. Es gab zu viel zu sagen, zu viel zu erklären, zu viele Lügen, die aufeinander abgestimmt werden mussten, während er immer neue ersann. Einen Augenblick lang schien die Vorstellung, Rhrenna würde ihm die Halsader aufschlitzen und sein Leben beenden, gar nicht so schlimm. Zumindest würde das den Komplikationen ein Ende machen.
»Wie meint Ihr das, die Numrek haben uns verraten?«
»Sie – oh, mit einem Dolch an der Kehle ist das wirklich schwierig zu erklären.«
Corinn zuckte die Schultern. »Versucht es trotzdem.«
Und das tat er. So gut er konnte, wobei er oft zusammenzuckte, wenn er die Blutstropfen spürte, die aus kleinen Schnitten quollen, die das Messer verursachte. Er konnte Rhrennas Atem riechen – nicht unangenehm – und hören, wie sein Blut an ihren Fingern gerann, wenn sie sie krümmte. Er erzählte, wie die Ambra an ihrem Bestimmungsort eingetroffen war und die Besatzung festgestellt hatte, dass die Lothan Aklun und die Auldek offen gegeneinander Krieg führten.
Die Aklun hatten schwere Verluste erlitten, waren fast besiegt; Sire Neen hatte vergeblich versucht, einen Friedensschluss herbeizuführen. Die Auldek hatten sich unter dem Vorwand, verhandeln zu wollen mit ihm getroffen, berichtete er, doch Calrach nutzte diesen Augenblick, um die Seiten zu wechseln. Die Auldek waren ihren Verwandten, den Numrek, in vielerlei Hinsicht ähnlich. Gemeinsam metzelten sie die ganze Gesandtschaft nieder. Nur ein paar von den Männern, die an Land gegangen waren, kehrten an Bord der Ambra zurück. Das Schiff blieb noch einige Zeit in den Gewässern der Aklun, und die Besatzung versuchte, die Situation
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