Acacia 02 - Die fernen Lande
Tageslicht waghalsig gewesen. Bei Nacht war es Wahnsinn. Doch die Steuerleute der Gilde waren wahre Könner, wenn es um Seemannskunst ging, und der Offizier am Steuerruder der Rochenfinne steuerte einen wilden Kurs zwischen den ankernden Schiffen hindurch, vorbei an den Flößen der Händler, um den inneren Wachturm herum, und ließ die Segel erst einholen, als der Schwung des Schiffes allein ausreichte, es an einem glücklicherweise freien Bereich des Piers der Gilde entlangrauschen zu lassen. Noch bevor sie wirklich gestoppt hatten, rief er dem Boten zu, von Bord zu springen. Der Mann brauchte keine weitere Ermunterung. Er sprang an Land und rannte so schnell, wie es ihm befohlen worden war, den Pier entlang.
Knappe zehn Minuten später saß Sire Dagon übernächtigt da, das Gewand locker um seine magere Gestalt geschlungen. Sein Verstand war vom Nebel so getrübt, dass seine Diener ihn ungeachtet seiner gedämpften Proteste zu seinem Stuhl hatten tragen und ihn hineinsetzen müssen. Doch selbst hier, bei hell brennenden Lampen und offenen Fenstern, die eine kühle Brise hereinließen, schwebte er immer noch auf dem Chor engelhafter Stimmen dahin, die er in seinen Nebelträumen dirigierte. In seinem Kopf wogte der Gesang, sein Körper, der so leicht war wie eine Seidenpuppe und in der Luft tanzen konnte, wurde erst jetzt auf die Erde zurückgezerrt. Blinzelnd fragte er den Boten, was für einen außergewöhnlichen Anlass es geben könnte, zu so später Stunde zu stören.
»Ich bin in aller Eile gekommen«, erwiderte der Mann.
»Das ist mir klar«, sagte Sire Dagon und lehnte den Kopf zurück, was ihm aus irgendeinem Grund half, Gegenstände, die sich in mittlerer Entfernung von ihm befanden, klarer zu erkennen. Der Mann sprach im abgehackten Tonfall des Ishtat-Inspektorats, eine Tatsache, die den Gildenmann aufmerken ließ. Ishtats waren so umfassend ausgebildet, dass sie nur selten mit so untergeordneten Aufgaben wie Botengängen beauftragt wurden. »Was ich noch nicht weiß, ist, warum. Aber du wirst mir das gewiss sogleich erzählen. Wer hat dich geschickt?«
»Der Rat der Gilde.«
»Warum haben sie keinen Botenvogel von Thrain geschickt?«
»Die Neuigkeiten, die ich überbringe, wurden als zu schwerwiegend erachtet, um sie der Obhut einer Brieftaube anzuvertrauen.«
»Der Obhut einer Brieftaube?« Sire Dagon fand das erheiternd. Bilder von Offiziers-Brieftauben mit militärischer Haltung, die kleinen Legionen aus Vögeln Anweisungen zugurrten, tauchten in seinem Geist auf, worauf die Vögel sich sodann mithilfe der Musik, die noch immer in seinen Adern pulsierte, in die Lüfte schwangen …
»Sire, Ihr müsst zuhören.«
Ziemlich unverschämt rief der Bote nach Sire Dagons Dienern. Er verlangte, dass sie ein ernüchterndes Gebräu bringen sollten, um den Gildenmann aus seinem benebelten Zustand zu reißen. Denn er müsse wieder voll zurechnungsfähig sein, und das unverzüglich, sagte er. Offenbar hatte er auch noch ein paar andere, ziemlich überzeugende Dinge gesagt, denn bevor Sire Dagon es verhindern konnte, stopfte ihm sein Hausdiener eine belebende Pille in die Nase. Nicht sehr angenehm, aber wirkungsvoll. Binnen einer Minute war er wacher, als er es sich wünschte, dafür sorgte das Brennen in seiner Nase und in seiner Kehle.
»Vergebt mir, Sire.« Nun, da seine Anweisungen befolgt worden waren, verbeugte sich der Bote vor ihm. »Mir wurde befohlen, bei der Übermittlung meiner Botschaft keine Minute zu verschwenden. Aber Ihr müsst auch in der Lage sein, sie zu hören und zu verstehen. Diese Botschaft kommt einstimmig vom Rat. Um meinen Hals trage ich den Kragen, mit einem Wahrheits-Knoten gesichert, der bestätigt, dass meine Worte wahr sind.«
Der Mann trat vor, beugte sich herab und öffnete den Hemdkragen, so dass Dagon die dünne Schnur begutachten konnte, die um seinen Hals geschlungen war. Sire Dagon zerrte daran, zog sie dicht zu sich heran. Für ein ungeübtes Auge sah der Knoten, der den Kreis schloss, wie das Durcheinander aus, das ein Kind zustande bringen mochte, doch seine Schlaufen und Bündel waren von einer Komplexität, die in der Tat sehr viel Übung verriet. Und seine Authentizität stand vollkommen außer Frage. Der Bote war vom Rat der Gilde geschickt worden.
Sire Dagon winkte dem Mann, wieder zurückzutreten. Dann fand er seine Würde wieder und sagte: »Ich höre.«
Und so saß er da und hörte von den entsetzlichen Geschehnissen, die Sire Neens Fehler ausgelöst
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