Acacia 02 - Die fernen Lande
gegen die Numrek war im Vergleich dazu nur ein Zeitvertreib.
»Bereitet Euer Volk vor.« Sie machte eine Pause, blickte über die gebeugten Köpfe der Schreiber hinweg, lauschte dem Kratzen so vieler Stifte auf Pergament.
Ein paar von ihnen waren mit dem Schreiben fertig und hoben ihre Schreibwerkzeuge. »Ist das alles?«, fragte Rhrenna.
Corinn schüttelte den Kopf, wartete aber, bis alle Schreiber so weit waren. »Sagt Eurem Volk«, fuhr sie fort, »dass das Gesetz der Quote, das seit den Tagen Tinhadins in Kraft gewesen ist, aufgehoben wird. Von heute an werden keine Kinder der Bekannten Welt mehr in die Anderen Lande geschickt. Lasst die Menschen das wissen. Ladet sie ein, zur Feier des Tages den neuen Prios-Wein zu trinken. Hört es noch einmal: Die Quote ist abgeschafft.«
46
Kelis dachte immer wieder, dass er nach Knöchelwurzeln graben sollte. Er ließ seine Blicke über das trockene Land schweifen, hielt nach den winzigen Büschen Ausschau, die auf die Wurzeln hindeuteten. Wie sollten sie überleben, wenn sie nicht die Feuchtigkeit aus Knöchelwurzeln saugten? Jeden Morgen stand er da, sog prüfend die Luft ein, suchte in der Brise nach Feuchtigkeit, nach irgendeinem Hinweis, dass Wasser eher in der einen als in der anderen Richtung zu finden sein würde. Er konnte auch gar nicht anders, als den Kopf zu neigen und auf die Geräusche der Tiere zu lauschen – einen nächtlichen Ruf, ein Trippeln ganz in der Nähe. Und tatsächlich fing er mehrere Male Mäuse mit seinem Handnetz. Doch wenn er dann in ihre zitternden, ängstlichen Augen schaute, wurde ihm klar, dass er weder den Wunsch noch das Verlangen hatte, sie zu essen. Einmal ging er sogar so weit, eine Sandschlange zu häuten und das Fleisch in der Gluthitze der Sonne zu trocknen. Und dann saß er angeekelt davor und wusste, dass weder er selbst noch Naamen oder Benabe auch nur einen Bissen davon hinunterbekommen würden.
Das muss Santoth-Magie sein, dachte er. Das ist die einzige Erklärung.
Fast vier Wochen war es nun schon her, seit Leeka und Shen verschwunden waren. Er wusste es, denn er hatte die Tage gezählt. Das hatte er doch getan, oder? Ja, er hatte sie sorgfältig in die trockene Haut seines Handrückens gekratzt. Achtundzwanzig Tage, doch es kam ihm viel länger vor. Es könnte ein ganzes Leben gewesen sein. Er könnte jetzt uralt sein. Alles in der Bekannten Welt könnte sich geändert haben, könnte nicht mehr wiederzuerkennen sein. Oder, was das betraf, vielleicht waren er und die beiden Seelen bei ihm die einzigen Menschen, die auf dem Rund der Schöpfung noch übrig waren. Alles andere schien so weit weg zu sein, so getrübt von der Zeit, so verschwommen, so unwirklich. Selbst Geschehnisse, von denen er wusste, dass er an ihnen teilgenommen hatte, kamen ihm jetzt mythisch vor. Mit Prinzessin Mena Übeldinge jagen? Zusehen, wie Aliver Akaran mit Maeander Mein seinem Tod entgegentanzt? Starr vor Ehrfurcht dastehen, während Zauberer Risse ins Land schrien, Würmer vom Himmel fallen ließen und Menschen in Dampfwolken verwandelten?
»Kelis?« Eine Hand packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn. Naamen beugte sich zu ihm herunter, sah ihm ins Gesicht; seine freundlichen Augen waren jetzt unendlich müde. »Bist du bei uns?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Wir sollten Benabe nicht zu lange allein sitzen lassen. Sie spricht mit sich selbst.«
»Oh …« Sie spricht mit sich selbst. Diese Worte hatte er schon früher einmal gehört. Naamen hatte sie zu ihm gesagt, und er hatte auf eine ganz bestimmte Weise geantwortet. Es war ein Spiel, das sie beide spielten, eine Möglichkeit, bei Sinnen zu bleiben, indem man Witze über den Wahnsinn machte. Was hatte er gesagt? »Das tust du auch.«
Naamen lächelte. Das war es, was er hören wollte. »Nein, ich spreche mit der geflügelten Ziege und dem Jungen mit den Katzenaugen und mit meiner längst verstorbenen Mutter. Das ist etwas anderes.«
»Natürlich«, sagte Kelis und stand auf. »Wie dumm von mir.« Er legte dem anderen den Arm um die Schultern, und gemeinsam gingen sie zu der Frau hinüber, die zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden war.
Nachdem Shen verschwunden war, war Benabe zuerst völlig außer sich gewesen. Ihr Wehklagen wurde zu einem Schrei der Wut und des Verlustes. Sie rannte dorthin, wo eben noch die wirbelnden Gestalten gewesen waren, und schlug um sich, als hätte sie Haken an den Armen, die sie unbedingt in einen Körper schlagen wollte. Als sie so auf die
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