Acacia 02 - Die fernen Lande
der falschen Stelle stand. Das war immerhin etwas.
»Sollen wir sie nach Norden bringen?«, fragte Naamen wenig später. Die beiden Männer standen ein kleines Stück von Benabe entfernt und unterhielten sich flüsternd. »Wir können nicht hierbleiben, oder? Wir werden hier sterben. Ich will Shen auch wiederhaben, aber nichts von dem, was wir getan haben, zeigt, dass wir sie finden könnten. Wir haben nicht die Macht dazu. Wir sollten Benabe nach Bocoum zurückbringen, bevor sie vollständig den Verstand verliert.«
»Diese Entscheidung muss sie selbst treffen«, wandte Kelis ein. »Wir können sie nicht gegen ihren Willen mitschleppen. Wenn sie es wünscht, ist es ihr Recht, hier zu sterben.«
Naamen rieb sich den verkrüppelten Arm. »Und was ist mit meinen Rechten?«, fragte er, beeilte sich jedoch gleich darauf, alles, was in seiner Frage hartherzig geklungen haben mochte, zu erklären. »Ich will ihr nichts Böses. Ich will Shen unbedingt zurückhaben, und ich will auch, dass Benabe wieder so ist wie früher. Ich würde alles tun, damit das geschieht, aber es vergeht Tag um Tag, und wir sind machtlos.«
»Die Santoth haben sie nicht ohne Grund mitgenommen.«
»Und wenn dieser Grund böse ist? Wie sollen wir wissen, ob sie sie nicht bloß hergelockt haben, um sie …«
»Still«, warnte Kelis ihn. »Wenn du diese Worte sagst, wird Benabe sie hören.« Beide Männer sahen zu Shens Mutter hinüber; sie saß noch genauso da wie zuvor. Ihre Lippen bewegten sich. »Naamen, du hast keinen Grund hierzubleiben. Geh nach Norden. Sag Sangae, was passiert ist.«
Naamen schürzte die Lippen und erwiderte mit fast schon heiterer Ergebenheit: »Ich glaube nicht, dass ich das tun sollte. Wenn du bleibst, bleibe ich auch. Ich will sicher sein, dass du das hier überstehst. Du hast mir ein gutes Rennen versprochen, wenn das alles vorbei ist. Dieses Versprechen werde ich einfordern.«
Und so blieben die beiden noch eine vierte Woche und verbrachten die Tage mehr oder weniger wie zuvor. Sie wanderten nicht mehr ganz so weit herum, aber sie warteten und achteten darauf, dass ihr Schatten nicht auf Benabe fiel. Und warteten weiter.
Und dann kam der Morgen, als Kelis blinzelnd die Augen öffnete und zu einem Himmel aufblickte, der noch nicht vom Grau der Morgendämmerung überzogen war, sondern aus dunkler, purpurner Schwärze bestand, im Westen von Sternen belebt und im Osten von der nahenden Sonne mit einem leicht gelblichen Schimmer versehen. Es war schön. Und still. Keine kichernden Hyänen oder raschelnden Eidechsen, keine Vogelrufe, kein Insektenzirpen, und ganz gewiss kein Laut von einem anderen menschlichen Wesen. Nur eine erhabene, nachsichtige Stille. Er lag einige Zeit so da, schaute und fühlte sich gelöster als seit vielen, vielen Tagen. Und nur ganz allmählich ging ihm auf, dass er sich nicht zuletzt deswegen so getröstet fühlte, weil kleine Hände seine Hand hielten. Nachdem ihm das klar geworden war, dauerte es noch einmal einige Augenblicke, bis er anfing, sich zu fragen, wie das möglich war. Wer hielt da seine Hand? Er wandte den Kopf.
Ein Mädchen saß neben ihm und sah ihn an. Sie hielt seine Hand in ihrem Schoß umklammert. »Hallo«, sagte das Mädchen. Sie lächelte. Shen.
»Was geht hier vor? Sag mir, dass ich nicht träume.«
»Du träumst nicht«, sagte das Mädchen.
Nein, er träumte tatsächlich nicht, wie er schnell begriff. Im Gegenteil, sein Kopf war so klar wie schon seit Wochen nicht mehr. Er starrte das Mädchen an, betrachtete sie – die Haut direkt vor ihm, das runde Gesicht, die nachdenklichen Augen. »Es war nett von euch, hier zu warten«, sagte sie. Ihre Worte lebten in der Luft zwischen ihnen, so klar und deutlich wie während ihres langen Marsches in den fernen Süden. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht, die Wärme ihrer Hände, die Feuchtigkeit, die sich dort bildete, wo ihre Haut sich berührte. »Ich dachte, wir müssten nach euch suchen.«
»Deine Mutter wollte nicht weg«, hörte er sich sagen. »Sie hat gesagt, du würdest zurückkommen, und wenn sie dann nicht hier wäre, würde sie sich das niemals verzeihen.«
Shen lächelte erneut. »Ich habe ein paarmal versucht, mit ihr zu sprechen, aber es hat nicht gut geklappt. Ich glaube, ich habe sie bloß aufgeregt. Aber das wollte ich wirklich nicht. Sie ist eine gute Mutter. Das habe ich den Santoth auch gesagt, nicht wahr, Leeka?«
Sobald sie den Namen ausgesprochen hatte, sah Kelis ein Stück entfernt eine
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