Acacia 02 - Die fernen Lande
Luft eindrosch, glaubte Kelis einen kurzen Augenblick lang beinahe, die Macht ihrer Wut könnte die Barriere zu der unbekannten Sphäre durchbrechen, in welche die Gestalten geflohen waren. Aber es gelang ihr nicht, und der Augenblick ging vorbei, und schließlich ließ Benabe die Arme sinken und stand schwer atmend da.
Kelis rief ihren Namen. Als sie den Kopf wandte und ihn ansah, loderte Zorn in ihren Augen. Den Hass, den sie gerade noch auf die Luft gerichtet hatte, schleuderte sie nun ihm entgegen. Sie schlug auf ihn ein, sodass er zurückwich und schließlich auf ein Knie sank, und fragte ihn dabei immer und immer wieder, warum er sie hierhergebracht hatte. Warum hatte er Shen nicht beschützt? Warum hatte er zugelassen, dass dieser Wahnsinnige ihre Tochter mitgenommen hatte? Warum? Sie hätte ihn ernsthaft verletzt, wenn Naamen sie nicht mit beiden Armen – sowohl mit dem starken als auch mit dem schwachen – gepackt und weggezogen hätte.
Am nächsten Tag jedoch machte Benabe sich ihre Wut zunutze. Anstatt sie auf Kelis zu richten, organisierte sie die Suche nach Shen. In der ersten Woche unternahmen sie abwechselnd Tagesmärsche. Einer von ihnen blieb immer genau an der Stelle zurück, wo Shen verschwunden war, während die beiden anderen in verschiedenen Richtungen davongingen und ihren Namen in die tote, stumme Weite um sie herum riefen. Obwohl Kelis fast sein ganzes Leben in Talay verbracht und einen Großteil der trockenen Weite des Kontinents erforscht hatte, hatte er nie zuvor ein Land gesehen, das so vollkommen ohne jegliches Leben war. Ja, es gab Geschöpfe da draußen, die sich versteckten wie die paar kleinen Tiere, die er gefangen hatte, aber was diese Gegend wirklich ausmachte, war, dass sie riesig und vollkommen leer war.
Er wusste, dass die südlichen Bereiche Talays irgendwo endeten. Natürlich endeten sie. Durch die aufgewühlten Wasser des Meeres noch weiter im Süden segelten Schiffe und kehrten dann wieder nach Norden zurück. Dariel hatte das einst getan; Gildenschiffe unternahmen diese Reise regelmäßig. Er wusste es, doch als er auf der Ebene stand, die sich in alle Richtungen erstreckte und nach Süden starrte, sah er nichts außer einer ausgedörrten, rissigen Oberfläche, die bis zum Horizont reichte und den Eindruck erweckte, als würde es dahinter genauso weitergehen. Wenn die Santoth Shen hatten, hatten sie sie zu einem Ort gebracht, den er weder sehen noch hören noch erreichen konnte. Er versuchte sich daran zu erinnern, was Aliver ihm über die uralten Zauberer erzählt hatte, aber er konnte sich nur so wenig ins Gedächtnis rufen.
Irgendwann im Verlauf der zweiten Woche veränderte sich Benabes Kummer. Statt sie anzutreiben, laugte er sie aus. Sie saß den größten Teil des Tages still da und starrte mit glasigen Augen ins Leere. Dann und wann sprang sie auf, schaute sich suchend um, fragte jeden, der in der Nähe war, ob er Shen gehört hatte. Hatten sie sie gehört? Sie rannte in eine Richtung, rief Shens Namen, nur um sich gleich darauf umzudrehen und in die andere Richtung zu eilen, ein ums andere Mal, bis Kelis oder Naamen sie packten. Dann ließ sie sich wieder schluchzend zu Boden fallen und murmelte, dass sie die Stimme ihrer Tochter gehört hatte.
Kelis und Naamen saßen abwechselnd bei ihr, während der andere weitersuchte. Keiner von ihnen fand eine Spur des Mädchens. Ihre eigenen, sich immer wieder kreuzenden Fährten zogen sich Meile um Meile durch den Sand um sie herum und legten Zeugnis von ihren Bemühungen ab. Niemals fanden sie eine Spur, die von irgendjemand anderem stammte.
In der dritten Woche fing Benabe an, Selbstgespräche zu führen. Ihren beiden Begleitern hatte sie sehr wenig zu sagen, aber sie hielt lange Vorträge. Sie sprach Worte, ja, ganze Sätze. Doch sie passten nicht zusammen, ergänzten sich zu nichts, dem er einen Sinn hätte entnehmen können.
Eigentlich verstand er sie nur ein einziges Mal, und das war, als er einmal etwas zu nahe an sie herantrat und sie sagte: »Nimm deinen Schatten weg«, genau wie auch an dem Morgen, an dem Naamen ihn aus seinem eigenen Knäuel im Kreis verlaufender Gedanken wachrüttelte.
Kelis, dem klar wurde, dass er eine der Regeln ihres kargen Miteinanders übertreten hatte, trat einen Schritt zur Seite, so dass sein Schatten nicht mehr auf sie fiel. Zumindest das hatte sich nicht geändert. Zumindest war ihr die Welt noch so weit bewusst, dass sie die Veränderung des Lichts bemerkte, wenn er an
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