Acacia 02 - Die fernen Lande
Stärke in ihm hindeuteten. Er war sich niemals sicher, ob er das tatsächlich in sich selbst spürte, aber er wusste, dass andere es sahen, und das kam ihm gelegen.
Nachdem Elaz ihn mit ein paar Worten vorgestellt hatte, begann er schließlich. »Wenn ihr zuhören wollt«, sagte er, »werde ich euch eine Geschichte erzählen.«
Ein paar Stimmen antworteten, sagten, dass sie zuhören würden. Ein paar andere schlugen sich mit der Hand gegen die Brust und bekundeten so ihre Zustimmung. Barad konnte jetzt einzelne Gesichter ausmachen. Müde Gesichter. Überarbeitete Gesichter mit den charakteristischen Merkmalen der relativ abgeschieden lebenden Küstenbewohner von Talay. Mit ihren geröteten Gesichtern, den breiten Wangenknochen und den kurzen Nasen glichen sie keinem der anderen Völker der Bekannten Welt. Doch die Neugier und der schwache Hunger in ihren Augen unterschieden sich nicht von dem, was er in den Augen anderer Menschen überall im Reich gesehen hatte. Genau daran wollte er seine Worte richten.
»Ich werde euch meine Geschichte erzählen, und ich hoffe, dass ihr in ihr auch die euren erkennen werdet. Ich hoffe, dass ihr verstehen werdet, dass viele von uns die gleiche Geschichte haben – und es ist eine tragische Geschichte.«
Er berichtete, dass er in den Lagern vor den Minen von Kidnaban geboren worden war. Er war mit dem Wissen groß geworden, dass er sein Leben damit verbringen würde, der Erde kostbare Metalle zu entreißen. Das war alles, was es jemals geben würde: Mühsal. Sein Leben würde er in den Arbeitspausen leben müssen. Lieben, Kinder großziehen, etwas über die Welt erfahren – all dies fand nur in gestohlenen Augenblicken statt. Mit fünf Jahren war er Wasserträger, mit sieben Bruchgestein-Sieber, mit acht Wagenhelfer. Mit zehn war er groß und stark genug, um kleine Säcke zu schleppen. Mit zwölf war er Bergmann und ließ allen Zorn, den er verspürte, an den Tunneln aus, die in die Erde führten. Und das tat er so viele Jahre lang, dass er bald die Lust verlor, sie zu zählen. Er wusste nichts über die Welt draußen, sondern verbrachte sein Leben Tag und Nacht unter der Aufsicht von Wachen in großen Türmen. Er wurde von Fahrern ausgepeitscht, wurde finster angestarrt, wurde oft in Ketten gelegt. Er wusste nicht, warum er so schuftete. Verstand die wirtschaftlichen Gegebenheiten der Welt nicht, und auch nicht, wie die Goldklumpen, die er ausgrub, einen Mann reich machen konnten, der eine ganze Welt weit entfernt war.
Was machte so ein Leben lebenswert? Zwei Dinge. Erstens die Droge namens Nebel. »Ihr habt bestimmt davon gehört. Ich glaube, ihr kennt sie gut.« Jede Nacht – oder jeden Tag, je nachdem, in was für einer Schicht er arbeitete – konnte er den grünen Rauch inhalieren und von einer Welt des wahren Lebens träumen. Das andere, was seine Mühsal lebenswert machte, war, dass es ihm irgendwie gelang, Augenblicke zu finden, in denen er ein Mann sein konnte. Er liebte eine Frau und zeugte ein Kind. Er sah, wie dieses Kind geboren wurde und ein paar kostbare Jahre lang lebte, stahl sich Momente, in denen er sich wie ein Vater fühlte.
»Doch ich habe dieses Kind verloren«, sagte Barad. »Den Jungen und seine Mutter.« Er räusperte sich und schwieg einen Augenblick. Bevor er anfing, dachte er immer, dass er beim nächsten Mal erzählen würde, wie er sie verloren hatte, doch genau wie schon Hunderte von Malen zuvor schnürte sich seine Kehle um die Worte zusammen. Und sie öffnete sich erst wieder, als er beschloss, einfach weiterzumachen und dieses eine ungesagt zu lassen.
Einige Monate bevor es zum zweiten Krieg zwischen den Akarans und den Mein gekommen war, hatte er plötzlich in seinen Träumen eine Stimme gehört. Er hätte nichts von dem drohenden Krieg gewusst, wenn die Nachricht nicht wie ein Flüstern zu ihm gekommen wäre, von einer Brise von weither herangetragen. Sie trieb in seinen nebelgetränkten Verstand. Und genau dort, in seinem eigenen Kopf, benommen auf dem Boden einer Mine, hörte er die Worte des zurückkehrenden Prinzen. Gewiss, er war viele, viele Meilen weit weg, aber Aliver hatte eine Möglichkeit gefunden, zu ihm zu sprechen. Was hatte er gesagt?
»Er hat gesagt, dass die Welt für eine Veränderung bereit ist. Er hat gesagt, er wird aus seinem langen Exil zurückkehren und mit der Macht der Bevölkerung des Reiches hinter ihm und mit der Hilfe der Alten nicht nur Hanish Mein unterwerfen, sondern auch die Ordnung der ganzen Welt
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