Acacia 02 - Die fernen Lande
mit geschürzten Lippen zur Kenntnis nahm. »Vielleicht spreche ich zu freimütig. Verstehst du, Kelis, mir ist, als würde ich dich bereits kennen. Aber ich sehe, dass ich für dich noch nicht so … Oh, da sind sie ja! Mach dich auf eine Überraschung gefasst, mein Freund.«
Drei Gestalten kamen durch das Labyrinth aus überall im Raum verteilten Möbeln auf sie zu. Sangae war während des größten Teils von Kelis’ Leben ein alter Mann gewesen, aber er trug sein Alter wie ein immer gleiches Kleidungsstück. Noch immer war er ein schlanker Mann; zu seiner Zeit war er ein großer Läufer gewesen. Sein einfaches Gewand war um seinen Körper und dann über eine Schulter geschlungen.
Sangae umarmte ihn. »Es ist viel zu lange her, mein Sohn.«
»Ja, Vater, aber der Schöpfer ist freundlich«, antwortete Kelis. Sangae war nicht wirklich sein Vater, aber in Umae waren die Begriffe Vater und Sohn schon immer großzügig benutzt worden. Der andere Mann war eindeutig Iomas Vater, Sinper Ou. Sie hatten dieselben Gesichtszüge und waren von ähnlicher Statur. Die ergrauenden Haare des älteren Mannes waren noch voll, nur um die Ohren herum waren sie kurz geschoren. Sinper begrüßte Kelis herzlich, doch sein erhobenes Kinn und die halb gesenkten Lider machten deutlich, dass er die Ehrerbietung erwartete, die normalerweise Häuptlingen vorbehalten war.
Kelis, der über die Schulter des alten Mannes schaute, als der ihn umarmte, sah, dass eine Frau den beiden Männern folgte. Sie zu sehen, erweckte etwas in ihm. Es gab vieles in ihrem Gesicht, an das er sich erinnerte. Die breite, glatte Stirn; die großen Augen, die durch den sanften Schwung ihrer Nase voneinander getrennt waren. Volle, wohlgeformte Lippen, die jetzt gekräuselt waren, wie es in förmlichen Situationen bei talayischen Frauen üblich war. Allerdings erinnerte ihre Schönheit ihn auch an ein Gefühl: Neid. Und dieses Gefühl ließ ihn letztlich begreifen, wer sie war: Benabe, eine der vielen jungen Frauen, die Aliver umworben hatten, als er zum Mann geworden war.
»Benabe«, sagte Kelis, »in deinen Augen verbirgt sich der Mond.«
»Nein«, sagte sie, »das ist die Sonne in deinen Augen, die sich nur in meinen spiegelt.«
Nachdem sich alle begrüßt hatten, nahm Ioma Kelis am Arm und führte ihn zu einer Liege. Alle setzten sich und nippten an dem gekühlten Getränk, während Diener einen Tisch deckten: kleine Schüsseln mit eingelegtem Kohl und winzige Tintenfische, Fischeier auf Dreiecken aus hartem Brot. Eine Weile plauderten sie ohne besonderes Ziel. Das war vollkommen normal, aber Kelis konnte seine Neugier kaum zügeln. Halb fragte er sich, ob er wohl würde warten müssen, bis er allein war, um es herauszufinden, und mehr als halb fragte er sich, ob die junge Frau, die so still war, während die Männer sich unterhielten, eine Rolle bei dem spielte, weswegen er hierhergerufen worden war.
Sinper fragte Kelis nach seinen Kämpfen gegen die Übeldinge. Er schien aufrichtig an den Bestien interessiert zu sein, aber auch an Mena Akaran. War sie im Kampf wirklich so wild, wie alle sagten? Stimmte es, dass sie eine vieläugige Löwenbestie mit ihrem eigenen Schwert getötet hatte? Konnte sie auf der Jagd tatsächlich mit talayischen Läufern mithalten? Kelis antwortete jedes Mal geradeheraus und ehrlich.
»Dann bewunderst du sie also?«, fragte Sinper.
»Es gibt viel zu bewundern.«
»Und was ist mit ihrer Schwester?«, fragte Ioma.
»Königin Corinn«, sagte Kelis, »kenne ich nicht besonders gut.«
Ioma grinste. »Sie läuft nicht barfuß an der Seite unserer Männer, oder?«
»Nein«, räumte Kelis ein.
Ioma lehnte sich zurück. »Das wäre vielleicht ein Anblick … Ich würde viele Silberstücke dafür bezahlen, unsere Königin ein Rennen laufen zu sehen. Sie würde ihre feinen Gewänder zu Hause lassen müssen, aber auch das würde mir nichts ausmachen.«
Die Worte waren leicht dahingesagt, doch danach sagte einen Moment lang niemand etwas. Sinper sah seinen Sohn missmutig an, schien dann aber anzuerkennen, dass sie – wenn auch auf ungeschickte Weise – bei einem Thema von gewisser Bedeutung angekommen waren. Er räusperte sich. »Wir sind nicht hier, um müßig zu plaudern. Ihr wisst das. Aber wir werden uns auch nicht mit derben Witzen über die Königin selbst erniedrigen.« Er richtete den Blick auf Ioma, der zumindest ein paar Sekunden lang wegschaute, zerknirscht wie ein Knabe. »Nein, ich werde sie nicht mit derlei Dingen
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