Accelerando
sodass er nachvollziehen kann, was passiert
ist, als der Agent auf den Neuankömmling gestoßen ist. »O Scheiße!«, sagt er mit weit aufgerissenen
Augen.
Es ist nicht der Filmproduzent, sondern der Rechtsanwalt, der sich
soeben in das virtuelle Universum der Field Circus heraufgeladen hat. Jemand muss es Amber melden. Zwar ist ein
Gespräch mit Amber das Letzte, worauf Pierre Lust hat, aber es
wird ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als sie zu
benachrichtigen. Denn hier handelt es sich nicht einfach um einen
alltäglichen Besuch: Der Rechtsanwalt verheißt
Probleme.
Nimm ein Gehirn und steck es in eine Flasche. Noch
besser: Nimm die Kartierung eines solchen Gehirns, integriere sie
in die Kartierung einer Flasche – oder eines Körpers
– und speise Signale ein, die den neuronalen Input des
Gehirns simulieren. Dann lese die Outputs ab und leite sie, um den
Kreis zu schließen, zu einem Modellkörper weiter, der
sich in einem Modelluniversum mit simulierten physikalischen
Gesetzen befindet. Rene Descartes könnte das nachvollziehen.
Vereinfacht ausgedrückt, ist dies der Zustand, in dem sich
die Passagiere der Field Circus befinden. Früher waren
sie Menschen aus Fleisch und Blut, doch ihre neuronale Software
(sowie eine Karte der Wetware, in welche diese Software im
Schädel eingebettet ist) hat jemand in die virtuelle Umgebung
einer Maschinerie übertragen, die ein Rechner mit unglaublich
hoher Kapazität am Laufen hält. Deshalb stellt das
für die Passagiere erfahrbare Universum nur den Traum
innerhalb eines Traums dar.
Gehirne in Flaschen – aktivierte Gehirne, die
völlige, diktatorische Kontrolle über die Realität
haben, der sie ausgesetzt sind – verhalten sich zuweilen
anders als Gehirne in lebenden Körpern: Sie unterlassen
manche Dinge, zu denen Letztere gezwungen sind. Sie entscheiden
selbst, ob die Menstruation ausfallen soll. Auch Übelkeit,
Angina, Erschöpfungszustände, Krämpfe muss man
nicht erleiden, sofern man nicht will. Genauso wenig wie den
physischen Tod, die Auflösung des Körpers. Andere Dinge
laufen schlicht deshalb weiter, weil die Menschen es so wollen.
(Auch wenn es sich dabei um Menschen handelt, die sich in eine
Software-Beschreibung verwandelt haben und mittels eines
Laser-Links hoher Bandbreite zur Virtualisierung in einen
Stapelspeicher geschickt wurden.)
Nehmen wir zum Beispiel die Atmung: Eigentlich ist sie nicht
nötig, aber die Unterdrückung des Atemreflexes nervt, es
sei denn, man greift in die Kartierung des Hypothalamus ein –
und das wollen die wenigsten menschlichen Uploads. Oder nehmen wir
das Essen (und ich meine hier nicht die Nahrungsmittelzufuhr, die
dem Hungertod entgegenwirkt, sondern das sinnliche Vergnügen
an Speisen): Hier können die Leute jederzeit
Schlemmermahlzeiten genießen, bei denen ausgestorbene Tier-,
Vogel- oder Pflanzenarten auf den Tisch kommen, etwa sautierte,
mit dem Heilkraut Silphium gewürzte Dronten. Was sollte dem
auch entgegenstehen?
Offenbar ist die Abhängigkeit des Menschen von einem
Input, der die Sinne anspricht, nicht aus der Welt zu schaffen.
Und dabei haben wir das Thema SEX noch außen vorgelassen.
Ebenso wie die technologischen Innovationen, die realisierbar
sind, sobald das Universum und die Körper innerhalb dieses
Universums Mutationsfähigkeit entwickeln.
Auch die öffentliche Audienz, die für
Neuankömmlinge abgehalten wird, findet in einer Filmszenerie
statt. Diesmal liefert der Pariser Palast von Charles IX. das
Vorbild, wobei der Thronsaal bis ins letzte Detail aus La Reine
Margot – Die Bartholomäusnacht von Patrice
Chéreau stammt. Amber hat darauf bestanden, diese Epoche
authentisch und überaus realistisch nachzustellen. Auch physisch
fühlt man sich ins Jahr 1572 zurückversetzt.
Pierre grunzt gereizt, denn an den Bart ist er nicht gewöhnt.
Außerdem scheuert der geschnürte Sackbeutel, den er
anstelle einer Unterhose trägt. Als er zur Seite sieht, merkt
er, dass er nicht der einzige Angehörige des königlichen
Hofstaats ist, der sich nicht wohl in seiner Haut fühlt. Doch
Amber überstrahlt alles in einem Gewand, das Isabelle Adjani in
der Rolle der Marguerite de Valois trug. Und der helle Sonnenschein,
der durch die Buntglasfenster hoch über den Köpfen
schauspielernder Zimbos in den Saal dringt, verleiht der festlichen
Zusammenkunft einen gewissen rudimentären Glanz. Es wimmelt hier
von Körpern in klerikalen Gewändern,
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