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Accelerando

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Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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auf den Fischmärkten von Kowloon oder über die
New Territories hinwegfegen. In dieser spannungsreichen Endphase
des Krieges gegen die Unvernunft bewegen sich unglaubliche neue
Formen am Himmel. Amber starrt mit weit aufgerissenen Augen nach
oben: Gerade steigt eine Shenyang F-30 fast senkrecht hoch; eine
Mixtur aus unbegreiflich geschwungenen Flugzeugteilen, die die
Hülle ergeben, verschwindet zu einem fernen Punkt am
Horizont, der weder vom menschlichen Auge noch vom Radar
auszumachen ist. Das chinesische Flugobjekt – Kampfflieger?
Raketenabschussrampe? Supercomputer? – nimmt Richtung auf das
Südchinesische Meer, um sich dem stets präsenten
Spähtrupp anzuschließen. Für die kapitalistische
Welt ist dieser Spähtrupp ein beruhigendes Zeichen
dafür, dass sie den Heerscharen der Verweigerung und den vom
Wa’hab ausgelösten Konflikten nicht schutzlos
ausgeliefert ist.
    Vorübergehend ist Amber nur ein frühreifes
Menschenkind. Aufgrund der Präsenz mächtiger
Infokrieg-Daemons – den Zensur-Bots der chinesischen
Regierung, die die Wahrnehmung ihrer tödlichsten Waffen
unterdrücken – ist Ambers Unterbewusstsein
ausgeschaltet. Und genau während dieser Sekunden, in denen
ihr Kopf so leer ist wie ein hohles Ei, gibt ihr ein Mann mit
ausgemergeltem Gesicht und blauen Haaren einen Stoß ins
Kreuz und greift nach ihrer Schultertasche.
    »Hei«, brüllt sie und gerät ins Stolpern.
Ihr Kopf ist umnebelt; die Optik weigert sich zu reagieren und ein
biometrisches Modell des Mannes zu erstellen, der sie
überfallen hat. Es ist ein Moment, in dem alles erstarrt, die
tote Zone, in der die online-Analyse versagt. Ehe Amber ihr
Gleichgewicht zurückerlangt hat oder versuchen kann, den Dieb
zu verfolgen, ist er schon auf und davon. Außerdem
weiß sie auch nicht, wie sie auf Kantonesisch »Haltet
den Dieb!« brüllen soll, da ihre
Übersetzungsprogramme jetzt nicht funktionieren.
    Als der Kampfflieger Sekunden später aus ihrem Blickfeld
entschwunden ist, wird die staatliche Zensur aufgehoben.
»Schnappt ihn, ihr Mistkerle!«, schreit sie, aber die
neugierigen Passanten, die zu einem Einkaufsbummel unterwegs sind,
starren das schlecht erzogene ausländische Kind nur an. Als
eine ältere Frau drohend ihr Wegwerf-Handy mit eingebauter
Kamera in Ambers Richtung schwingt und ihr etwas zukreischt, nimmt
sie die Beine in die Hand und rennt los.
    Jetzt schon spürt sie via Ultraschall, wie ihre
Schultertasche greint. Sie wird eine Szene machen, wenn Amber sie
nicht rechtzeitig einholt. Die Menschen auf Einkaufsbummel
zerstreuen sich. Eine Frau mit Kinderwagen ist in solcher Panik,
von hier fort zu kommen, dass sie Amber fast über den Haufen
rennt.
    Als Amber ihre entsetzte Schultertasche endlich erreicht, ist
der Dieb verschwunden. Fast eine Minute lang muss sie die
verängstigte Tasche streicheln, bis sie schließlich zu
kreischen aufhört und ihre Stacheln so einzieht, dass Amber
sie aufheben kann. Inzwischen ist bereits ein Robocop zur Stelle.
»Ausweis!«, krächzt er in synthetischem
Englisch.
    Fassungslos starrt Amber auf ihre Tasche. An der Seite klafft
ein riesiger Riss, außerdem ist sie viel zu leicht. Sie
ist weg, denkt sie verzweifelt. Er hat sie gestohlen. »Hilfe«, sagt sie kläglich und hält die
Tasche hoch, damit der ferne Polizist, der die Augen des Roboters
benutzt, sie sehen kann. »Man hat sie mir
gestohlen.«
    »Was fehlt denn?«, fragt der Roboter.
    »Meine Hello Kitty«, erwidert sie und klimpert
mit den Wimpern. Inzwischen hat sich ihre Verlogenheit auf
höchste Stufe eingestellt, ihr Bewusstsein auf Unterwerfung
getrimmt und vor den schlimmen Konsequenzen gewarnt, sollte die
Polizei herausfinden, was es mit diesem Kätzchen in
Wirklichkeit auf sich hat. »Man hat mir mein Kätzchen
gestohlen! Können Sie mir helfen?«
    »Gewiss doch.« Beruhigend legt ihr der Robocop eine
Hand auf die Schulter – eine Hand, die sich in ein
stählernes Armband verwandelt, als er sie in einen
Gefangenenwagen schiebt. In formeller, gestelzter Sprache teilt er
ihr mit, dass sie wegen Verdachts auf Ladendiebstahl
vorläufig festgenommen ist. Nur wenn sie sich ausweisen und
den schlüssigen Nachweis erbringen könne,
tatsächlich die rechtmäßige Eignerin aller
Gegenstände in ihrem Besitz zu sein, werde man von ihrer
Unschuld ausgehen.
    Als Ambers fleischliches Gehirn schließlich registriert,
dass man sie, wenn auch höflich, verhaftet hat,

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