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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Schlafzimmers saust die imaginäre
Tag/Nacht-Scheide des Jupiters mit unheimlicher Geschwindigkeit auf
sie zu, sodass der Sog sie erfasst. Bald wird die Nacht über sie
hereinbrechen, und sie wissen nicht, was sie birgt.



 
DRITTER TEIL:
     
SINGULARITÄT
     
     
Die Dummen sterben nicht aus.
    P. T. Barnum

 
der museumsdirektor
     
     
    SIRHAN STEHT AM RANDE EINES ABGRUNDS UND SCHAUT AUF eine
aufgewühlte orange-graue Wolkenlandschaft weit unten. So nahe am
Rand ist die Luft frostig und riecht leicht nach Ammoniak. Vielleicht
bildet sich Sirhan das aber auch nur ein. Aufgrund der transparenten
Wand rund um die fliegende Stadt, die sie vor dem Vakuum
schützt, ist es eigentlich recht unwahrscheinlich, dass hier ein
Austausch von Gasen stattfinden kann. Er meint fast, die wirbelnde
Landschaft aus Dampf berühren zu können, wenn er die
Hände ausstreckt. Da er so nahe am Rand steht, hält sich
niemand in seiner Umgebung auf. Ihn durchfährt ein eiskaltes
Gefühl bei dem Wissen, dass es dort draußen auf
zehntausende von Kilometern hinaus nichts Massives gibt, während
er über die tosende Tiefe hinweg auf ein Meer aus Gas blickt,
das so kalt ist, dass ein ihm ausgesetzter Körper binnen
Sekunden erfrieren würde. Die Knappheit der Bandbreite in dieser
Raumregion, so weit draußen im System, verstärkt das
Gefühl von Isolation noch. Die meisten Menschen scharen sich um
den inneren Kern, weil sie dort Trost und Wärme suchen und die
wichtigen Dinge mitbekommen. Die Posthumanen sind gesellige
Leute.
    Die Stadt, in der er sich befindet – sie erinnert ihrer Form
nach an dahintreibende Wasserlilien – dehnt sich ständig
weiter aus, murmelt und brodelt in endlosen selbstähnlichen
Schleifen, ist wie ein kubistisches Gebilde oder ein Tumor, der in
der oberen Atmosphäre Saturns heranwächst. Große
Röhren saugen Methan und andere atmosphärische Gase an,
setzen Energie zur Erzeugung von Polymeren und Diamantglas ein und
spalten Wasserstoff ab, um damit die Auftriebszellen hoch oben zu
füllen. Jenseits der saphirblauen Kuppel, der Gashülle der
Stadt, funkelt ein azurblauer Stern im Licht eines Laserstrahls: Es
ist das erste – und bislang auch letzte -Sternenschiff der
Menschheit, das jetzt mit Hilfe der letzten Überreste seines
zerfetzten Lichtsegels in die Umlaufbahn vorstößt und das
Tempo drosselt.
    Sirhan fragt sich gerade gehässig, wie seine Mutter wohl
reagieren wird, wenn sie merkt, dass sie jetzt pleite ist, als die
Lampe über ihm aufflackert. Etwas Graues, Unerfreuliches
klatscht gegen die gewölbte, fast unsichtbare Wand vor ihm und
hinterlässt Schmierflecken. Er tritt einen Schritt zurück
und blickt wütend nach oben. »Verpisst euch, verfluchte
Biester!« Heiseres, gurrendes Lachen verfolgt ihn vom Rande her,
die Stimmen wilder Wandertauben, die sich über ihn lustig
machen. »Das ist mein voller Ernst«, warnt er sie und
deutet in die Luft über seinem Kopf. Flügel breiten sich
wie mit einem Donnerschlag aus, als ein Windstoß feste Gestalt
annimmt und sich Nanomaschinen in der Form von Distelwolle, die sich
von der Brise haben treiben lassen, so miteinander verbinden, dass
sie über Sirhans Kopf einen Schirm bilden. Wütend geht er
vom Rand weg und überlässt es den Tauben, nach einem
anderen Opfer Ausschau zu halten.
    Verärgert sucht Sirhan Zuflucht auf einem begrünten
Hügel, der sich, einige hundert Meter vom Rand entfernt, hinter
der Kurve befindet, an der die Museumsgebäude liegen. Hier hat
er so viel Abstand zu anderen Menschen, dass er ungestört
dasitzen und seinen Gedanken nachhängen kann, und ist
gleichzeitig so weit im Abseits, dass er über den Rand blicken
kann, ohne von einem Schwarm fliegender Ratten mit Scheiße
bombardiert zu werden. (Zwar ist diese fliegende Stadt ein Produkt
fortgeschrittener Technologie, die vor zwanzig Jahren noch kaum
vorstellbar war, doch sie steckt voller Tücken. Komplexe
Software und maßregelnde Gesetze haben dafür gesorgt, dass
Designfehler in den letzten zwei Jahrzehnten überhand genommen
haben. Und zwar in einem Ausmaß, dass man fast schon von einer
Phase universeller Aufblähung von Funktionsstörungen
sprechen kann. Die Taubenplage ist dabei keineswegs das
unerklärlichste Phänomen und Problem dieser
Biosphäre.)
    Er versucht, die eher unerfreulichen Erscheinungen dieser
Cyber-Natur zu verdrängen, setzt sich in den Schatten eines
Apfelbaums und macht sich daran, die Welten in seiner Umgebung
gedanklich zu ordnen. »Wann kommt meine

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