Accelerando
hinunter.
Sirhan lässt ihn so achtsam zu Boden, als wären seine
Knochen aus Glas. »Lauf nur, geh spielen«, schlägt er
vor und wendet sich Rita zu. »Willst du dich nicht erkundigen,
was Ren auf dem Herzen hat, Liebes? Wahrscheinlich ist sie hier, um
Lis abzuholen, aber man kann ja nie wissen.«
»Ich wollte gerade gehen«, meldet sich Eloise,
»muss mir nur erst Sam schnappen.« Über die Schulter
hinweg wirft sie Rita einen entschuldigenden Blick zu und
verschwindet gleich darauf im Fitnessraum.
Sirhan tut einen Schritt Richtung Gang. »Lass uns
reden«, sagt er angespannt. »In meinem Arbeitszimmer.«
Wütend sieht er die Katze an. »Ich erwarte eine
Erklärung. Ich will wissen, was hier wirklich gespielt
wird.«
In einem Wunderland des Wissens, das Mannis Eltern zwar kennen,
aber maßlos unterschätzen, beschäftigen sich Teile
von Manni mit Dingen, die längst nicht so unschuldig sind, wie
Sirhan und Rita annehmen.
Vor langer Zeit, im einundzwanzigsten Jahrhundert, durchlebte
Sirhan in der Simulation jede Menge unterschiedlicher Kindheiten.
Seine Eltern hatten die Finger fest auf der Vorspultaste, bis sie
schließlich einen Sirhan fanden, der ihren Vorstellungen
offenbar einigermaßen entsprach. Diese Erfahrungen waren
für ihn nicht weniger beängstigend als ein
Internatsaufenthalt für Schüler des neunzehnten
Jahrhunderts. Irgendwann hat er sich gelobt, eigene Kinder niemals
solchen Torturen auszusetzen. Aber es ist ein Unterschied, ob man
unfreiwillig durch eine Vielzahl von Simulationen geschleust wird
oder freiwillig in ein aufregendes Universum der Mythen und Magie
eintaucht. Ein Universum, in dem die eigenen Kindheitsfantasien feste
Gestalt annehmen und man auch die Träume und Albträume von
Freunden und Feinden quer durch das nächtliche Dickicht
verfolgen kann.
Manni ist mit neuronalen Verbindungen zum Gedankenraum der Stadt
aufgewachsen, die weitaus komplexer sind als jene in Sirhans
Jugendzeit. Und manche Teile von ihm entsprechen ganz und gar einem
Erwachsenen-Ich. Dabei handelt es sich um jene Agenten, die aus dem
ursprünglichen Abbild seines neuronalen Zustandsvektors stammen,
jedoch mit Merkmalen angereichert sind, die dem »echten«
Manfred entlehnt wurden – körperlich simuliert von einer
Maschine, die viel schneller als in Echtzeit arbeitet.
Selbstverständlich sprengen sie das Fassungsvermögen seines
siebenjährigen Schädels, dennoch passen sie auf Manni auf.
Und wenn er in Gefahr ist, versuchen sie, seinen früheren und
zukünftigen Körper zu schützen.
Mannis wichtigster erwachsener Agent lebt in einigen virtuellen
Gedankenräumen New Japans. Diese Gedankenräume sind
milliardenfach größer als die physischen Räume, die
den Menschen, sofern sie stur an ihrem Körper festhalten,
zugänglich sind; die Informationsdichte menschlicher Habitate,
gemessen in MIPS pro Kilogramm, fällt schon seit langem kaum
noch ins Gewicht. Die Gedankenräume basieren auf Modellen der
Erde, wie sie vor der Singularität aussah. An der Schwelle zum
realen einundzwanzigsten Jahrhundert ist die Zeit für immer
stehen geblieben, genau um 8:46 Uhr am 11. September 2001. Ein
herbeirasendes großräumiges Flugzeug hängt
bewegungslos in der Luft, vierzig Meter unterhalb des
Panoramafensters von Mannis Penthouse-Appartment im hundertachten
Stockwerk des nördlichen Turms. In Wirklichkeit waren dort
damals Firmenbüros untergebracht, aber der Gedankenraum ist eine
gemeinschaftlich festgelegte Fiktion, und es war Mannis Einfall, an
diesem Dreh- und Angelpunkt zu wohnen. (Nicht, dass es ihm viel
bedeuten würde – schließlich ist er mehr als hundert
Jahre nach dem War on Terror geboren –, aber diese
Geschichte gehört zu den Sagen und Legenden seiner Kindheit. Der
Einsturz der beiden Türme hat den Mythos westlicher
Überlegenheit und Unantastbarkeit erschüttert und den Weg
für die Welt bereitet, in die er hineingeboren wurde.)
Den erwachsenen Manni verkörpert ein Avatar, der in etwa nach
dem Vorbild seines Klon-Vaters Manfred gestaltet wurde. Das
Erscheinungsbild ist das eines jugendlich wirkenden Mannes in den
Zwanzigern, etwas dünner als das Original. Als Anhänger des Gothic ist er völlig schwarz gekleidet. Gerade hat er ein Matrix-Spiel unterbrochen, um Musik der Band Type O
Negative zu hören, die über die Lautsprecheranlage
dröhnt. Angetörnt durch eine eiskalte Cola, lässt er
die Glieder im Rhythmus der Musik zucken. Er wartet auf den Besuch
von zwei Callgirls (die
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