Accelerando
Sie
greift nach seiner Hand und lässt verschlüsselte Token tief
in sein Sensorium gleiten – eine Spur von Brotkrumen, die in
einen düsteren, unwegsamen Teil des Gedankenraums führt.
»Willst du’s wirklich herausfinden? Dann folge mir.«
Gleich darauf verschwindet sie.
Verblüfft und verängstigt beugt Manni sich vor und
blickt auf das prächtige herbeirasende Flugzeug unterhalb seines
Fensters, das im Anflug erstarrt ist. »Scheiße«,
flüstert er. Sie hat meine Abwehrmechanismen einfach
durchbrochen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wer ist sie? Der
Geist seiner toten Urgroßmutter oder etwas anderes?
Um das herauszufinden, muss ich ihr folgen, wird ihm klar.
Er streckt die linke Hand hoch und starrt auf die Token, die, obwohl
unsichtbar, in seiner fleischlichen Hülle hell leuchten.
»Synchronisiere mich mit meinem Original.«
Es dauert nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde, bis ein wildes
Beben und Aufbäumen das Penthouse erschüttert und die
Sirenen des Feueralarms losschrillen. Während die Zeit an ihr
Ende gelangt, erreicht das erstarrte Flugzeug seinen Bestimmungsort.
Doch Manni ist nicht mehr da. Und wenn ein Wolkenkratzer in einer
Simulation einstürzt, ohne dass jemand zusieht, ist dann
tatsächlich irgendetwas geschehen?
»Ich bin wegen des Jungen hier«, sagt die Katze. Mitten
auf dem Holzfußboden sitzt sie auf dem handgewebten Läufer
und streckt ein Hinterbein in so seltsamem Winkel von sich, als
hätte sie es dort vergessen. Sirhan muss sich nur die
Größe dieser separaten Informationseinheit – dieses
launischen, posthumanen Geschöpfs, das seine Vorfahren in die
Welt gesetzt haben – vor Augen halten, um sich kurze Zeit am
Rande der Hysterie zu bewegen. Ursprünglich ein
Roboter-Spielzeug, als Gefährte für Kinder gedacht, wurde
Aineko ständig mit Upgrades ausgestattet und mit neuem
Zubehör versehen. Schon in den Achtzigern, als Sirhan Aineko
erstmals in fleischlicher Form gesehen hat, war sie eine
beängstigend fremdartige Intelligenz voller Scharfsinn und
Ironie. Und jetzt…
Sirhan weiß, dass Aineko seine Eigenmutter manipuliert hat.
Die Katze war es, die dafür gesorgt hat, dass Amber seinem
leiblichen Vater die ursprüngliche Zuneigung entzogen und sich
einem anderen Mann zugewendet hat. In düsteren Momenten der
Introspektion fragt er sich manchmal, ob die Katze in irgendeiner
Weise auch für seine verkorkste Kindheit verantwortlich ist. Und
für sein Unvermögen, eine Beziehung zu seinen leiblichen
Eltern herzustellen. Schließlich hat sie in dem
scheußlichen Scheidungskrieg zwischen Manfred und Pamela,
Jahrzehnte vor Sirhans Geburt, ein Bauernopfer dargestellt.
Möglich, dass sich in gewissen Laufwerken der Katze, die dem
Bewusstsein vorgelagert sind, langfristige Instruktionen verstecken.
Was, wenn der Bauer in Wirklichkeit ein heimlicher König ist,
der im Verborgenen seine Ränke schmiedet?
»Ich bin wegen Manny hier.«
»Du bekommst ihn nicht.« Nach außen hin bewahrt
Sirhan Gelassenheit, obwohl er sich am liebsten auf Aineko
stürzen würde. »Hast du nicht schon genug Unheil
angerichtet?«
»Du hast nicht vor, es uns beiden leicht zu machen,
wie?« Die Katze streckt den Kopf vor und beginnt wie besessen
die ausgestreckten Krallen der angehobenen Pfote zu lecken. »Ich
stelle keine Forderung, Junge. Ich hab nur gesagt, dass ich wegen
ihm hier bin, du bist überhaupt nicht im Bilde. Eigentlich
lehne ich mich schon viel zu weit aus dem Fenster, um dich zu
warnen.«
»Und ich sage…« Sirhan führt den Satz nicht zu
Ende. »Scheiße.« Eigentlich mag er es nicht, wenn man
flucht. Dass er es jetzt tut, ist ein äußeres Zeichen
für den inneren Aufruhr. »Vergiss, was ich gerade sagen
wollte. Ich bin sicher, du weißt es sowieso schon. Lass mich
bitte noch einmal von vorn anfangen.«
»Klar doch. Spielen wir’s nach deinen Regeln.« Die
Katze kaut auf einem losen Hornsplitter der Kralle herum, dennoch ist
ihre Innensprache völlig deutlich und so locker und vertraulich,
dass Sirhan nervös wird. »Du hast eindeutig eine
Vorstellung davon, was ich bin. Und du weißt – ich
unterstelle dir kognitive Intentionalität –, dass meine
Theorie dessen, wie ein anderer Verstand arbeitet, tatsächlich
scharfsinniger ist als deine, dass mein kognitives Modell des
menschlichen Bewusstseins, die Theory of Mind, keine
Lücken aufweist. Du darfst ruhig davon ausgehen, dass ich ein
Turing-Orakel dazu benutze, um mir Eselsbrücken über eure Halting States
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