Accelerando
so
komplex sind, dass sie eine Theory of Mind besitzen, gewisse
Vorteile bei der Verteidigung, denn sie können die Handlungen
ihres Angreifers antizipieren. Im Lauf der Zeit hat uns dieses
für Säugetiere typische Wettrüsten die Spezies eines
sozialen Affen beschert. Dieser Affe benutzte die Theory of Mind dazu, Signale zu fördern, damit der Stamm gemeinschaftlich
agieren konnte. Und umgekehrt auch dazu, die dem Stamm eigenen,
unterschiedlichen inneren Zustände zu simulieren. Zähl
beides zusammen, Signalgebung und introspektive Simulation, und du
hast ein Bewusstsein, das dem Niveau eines Menschen entspricht, wobei
die Sprache einen Bonus darstellt. Die Signale vermitteln auch
Informationen über innere Zustände, es sind keineswegs nur
primitive Mitteilungen wie ›Raubtier entdeckt‹ oder
›Hier gibt’s was zu fressen‹.«
Holt mich hier raus! Manni spürt, wie die Panik ihre
mit flüssigem Helium überzogenen Zähne in seinen
Körper schlägt. »Holt…« Wundersamerweise bringt er die Worte tatsächlich heraus,
obwohl er nicht genau weiß, wie er sie überhaupt
artikulieren kann, denn sein Kehlkopf ist fast so erstarrt wie seine
Innensprache. Alle Systeme sind offline und deaktiviert.
»Kommen wir also zu den Posthumanen«, fährt Pamela
gnadenlos fort. »Und damit meine ich nicht nur unsere eigene
neuronale Wetware, die bis zur subzellularen Ebene kartiert ist und
auf einem wahnsinnig großartigen, riesigen Rechner wie dem hier
in einer simulierten Umgebung läuft. Das ist nicht posthuman,
sondern eine Travestie. Ich rede von Wesen, die weit bessere
Bewusstseinsapparate darstellen als wir rein menschlichen Modelle, ob
wir nun künstlich verstärkt sind oder sonstige Hilfsmittel
benutzen. Nicht nur in ihrer Zusammenarbeit sind sie uns
überlegen – du musst dir bloß mal das
Wirtschaftssystem 2.0 ansehen, um dich davon zu überzeugen
–, sondern auch in Fragen der Simulation. Ein Posthumaner
kann das innere Modell einer menschenäquivalenten Intelligenz
konstruieren, das, nun ja, in kognitiver Hinsicht so
leistungsfähig ist wie das Original. Du oder ich mögen
annehmen, wir wüssten, wie andere Leute ticken, aber ziemlich
oft liegen wir falsch damit. Dagegen können echte Posthumane uns
tatsächlich detailgetreu simulieren, samt der inneren
Zustände und all dem. Und das gilt insbesondere für einen
Posthumanen, dem wir viele Jahre lang uneingeschränkten Zugang
zu unseren Erinnerungsprothesen gewährt haben, ehe wir
überhaupt merkten, dass die Posthumanen uns demnächst
überflügeln würden. Hab ich Recht, Manni?«
Hätte Manni einen Mund gehabt, hätte er sie jetzt
angebrüllt. Doch stattdessen tritt auf einmal ein gewaltiges
Déjà-vu-Gefühl an die Stelle der Panik. Pamela hat
irgendetwas… Ominöses an sich, das er kennt… Er
weiß genau, dass er ihr schon früher begegnet ist. Zwar
sind die meisten seiner Systeme abgeschaltet, aber eines davon ist
sehr aktiv: Ein Persönlichkeitsagent signalisiert ihm die
Absicht, wieder mit ihm zu verschmelzen. Und die gespeicherten
Erinnerungen, die dieser Agent mit sich herumschleppt, umfassen eine
riesige Datenmenge. Jahre und Aberjahre divergierender Erfahrungen,
die er sich einverleiben muss. Mit übermenschlicher Anstrengung
schafft es Manni, ihn zur Seite zu schieben (es ist ein sehr
hartnäckiger Agent) und sich auf andere Vorstellungen zu
konzentrieren: das Gefühl von Lippen, die sich über
Zähne bewegen, eine durchtriebene Zunge, die seinen Kehldeckel
blockiert, Worte, die sich in seiner Kehle formen wollen:
»Ich…«
»Wir hätten nicht so dumm sein dürfen, der Katze
fortwährend Upgrades zu verpassen, Manni. Sie kennt uns zu gut.
In körperlicher Hinsicht mag ich zwar tot sein, aber Aineko hat
sich an mich erinnert, so grässlich genau erinnert, wie
sich der missratene Nachwuchs an diejenigen erinnert hat, die
aufs Geratewohl rekonstruiert und simuliert wurden. Du kannst zwar
flüchten – wie jetzt, in diese zweite Kindheit –, aber
du kannst dich nicht verstecken. Deine Katze verlangt nach dir. Und
da gibt’s auch noch weitere Dinge.« Ihre Stimme löst
in seinem Rücken kleine frostige Schauer aus, denn der Agent hat
ohne Mannis Genehmigung damit begonnen, die riesige Ladung von
Erinnerungen in Mannis neuronale Karte zu integrieren, und Pamelas
Stimme ist mit ebenso erotischer wie abstoßender Bedeutung
beladen. All das resultiert aus dem Feedback der Konditionierung, der
er sich vor ewig langer Zeit – ist es ein ganzes Leben her
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