Accelerando
teilen ihm die äußeren Agenten seines
Bewusstseins mit, dass sie Annette mögen, wenn sie sie selbst
ist und kein Rädchen im Getriebe des Managements von
Arianespace. Aber der Teil von ihm, der noch menschlich ist,
weiß nicht genau, in wieweit er sich selbst trauen kann.
»Ich möchte ich selbst sein können. Was möchten
Sie sein?«
Sie zuckt die Achseln, während der Kellner ihr einen Teller
hinstellt. »Ich bin nur eine… ein Kind von Paris, nein?
Eine ingénue, die in der dunklen Epoche der Confederacion Europé aufgewachsen ist, in den
Trümmern der goldenen Europäischen Union, und das sind
Trümmer, die sie selbst zu verantworten hat.«
»Tja, stimmt.« Vor Manfred taucht ein Teller auf.
»Und ich bin ein guter alter IT-Freak vom MassPike-Korridor
zwischen New York und Boston.« Er hebt die Oberschicht des
Omeletts ein wenig an, um nachzusehen, womit es gefüllt ist.
»Und in den Jahren des amerikanischen Jahrhunderts geboren, in
denen die Sterne der USA zu sinken begannen.« Er stochert mit
der Gabel im gebratenen Reis herum und stößt auf einen
nicht identifizierbaren Fleischklumpen, der ihm Widerstand leistet.
Was seine Agenten ihm über Annette verraten können, ist
begrenzt – die europäischen Gesetze zum Schutz der
Persönlichkeit sind nach amerikanischen Maßstäben
recht drakonisch –, doch das Wesentliche ist ihm bekannt. Ihre
Eltern leben immer noch zusammen. Der Vater ist ein kleiner
Politiker, sitzt in irgendeinem Gemeinderat in der Nähe von
Toulouse. Annette hat die richtige école besucht.
Danach hat sie das obligatorische Bummeljahr, das die Regierung
bezahlt, damit verbracht, in der Confederacion Europé herumzureisen, um zu sehen, wie andere Menschen leben. Es ist
eine neue Art der Reichsbildung, die da stattfindet: An die Stelle
von Wehrdienst und Schaftstiefeln, die durch Europa stampfen, sind
Orientierungsreisen getreten.
Manfreds Agenten haben keine persönliche Website oder ein
Web-Tagebuch Annettes finden können. Bekannt ist, dass sie
gleich nach Abschluss der Polytechnischen Hochschule bei Arianespace
angefangen und seitdem eine Laufbahn im Management eingeschlagen hat.
Berufliche Erfahrungen hat sie bisher in Korou, Manhattan Island und
Paris gesammelt. »Ich nehme an, Sie haben nie geheiratet«,
sagt er.
Sie kichert. »Dazu war nie Zeit! Aber ich bin immer noch
jung.« Während sie mismas bhat auf ihre Gabel
häuft, fügt sie leise hinzu:
»Außerdem würde die Regierung darauf bestehen,
dafür zu bezahlen.«
»Aha.« Manfred stochert nachdenklich in seinem Essen
herum. Es beunruhigt die Bürokratie der Confederacion, dass die Geburtenrate überall in Europa sinkt. Vor einem
Jahrzehnt hat die alte EU damit begonnen, Babys zu subventionieren
und eine neue Generation von Müttern zu fördern, die
jederzeit für ihre Kinder da sind. Aber das Problem ist noch
immer nicht gelöst. Mit diesen Maßnahmen haben die
Politiker es lediglich geschafft, die intelligentesten Frauen im
gebärfähigen Alter vor den Kopf zu stoßen. Bald wird
die Confederacion den Blick nach Osten richten müssen, um
eine Lösung zu finden. Es wird darauf hinauslaufen, eine neue
Generation von Bürgern aus Asien zu importieren – es sei
denn, die schon lange angekündigte Entwicklung einer
überaus fitten Greisengeneration tritt tatsächlich ein,
oder es tauchen billige K.I.s auf.
»’aben Sie schon ein ’otelzimmer?«, fragt
Annette plötzlich.
»In Paris?« Manfred fühlt sich überrumpelt.
»Nein, noch nicht.«
»Dann müssen Sie mit mir nach ’ause kommen.«
Sie sieht ihn seltsam an.
»Ich bin mir nicht sicher, ob… Was ist los?«, fragt
er, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkt.
»Oh, gar nichts. Mein Freund Henry sagt, ich nehme allzu
unbekümmert ’erumtreiber bei mir auf, aber Sie sind ja
keiner. Ich glaube, Sie können für sich selbst sorgen.
Außerdem ist ’eute Freitag. Kommen Sie mit, dann schicke
ich Ihre Pressemitteilung als Bericht an die Firma. Sagen Sie, tanzen
Sie? Sie sehen so aus, als könnten Sie ein wildes Wochenende
brauchen. Ein Wochenende, das Ihnen ’ilft, Ihre Probleme zu
vergessen!«
Mittels ihrer Verführungskünste macht Annette Manfreds
Pläne für das Wochenende wie eine Dampfwalze nieder.
Eigentlich hatte er vorgehabt, ein Hotelzimmer zu nehmen, eine
Pressemitteilung zu verfassen und danach einige Zeit darauf zu
verwenden, den finanziellen Hintergrund der Organisation Parents
for Traditional Children zu durchleuchten sowie herauszufinden,
welche
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