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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Brünnhilde die zweite Frau im Wagner-Universum ist, die sehnsüchtig darauf wartet, dass der Knabe, dessen Geburt sie überwacht hat, endlich ins Alter kommt, in dem sie sich mit ihm paaren kann.) Ist Parsifal ihr im ersten Akt noch an die Gurgel gegangen, als sie ihm mitteilte, dass seine Mutter vor Kummer ob des entlaufenen Sohns gestorben sei, hat ihn die geballte weibliche Gegenwart hier bereits so angegriffen, dass er sich selbst die Schuld am Tod der Mutter gibt. Und sich einen »blöden, taumelnden Toren« nennt. Der ersten Attacke durch die neckischen Blumenmädchen hat der Tor brav widerstanden, aber nun läuft er Gefahr, durch Kundrys geschicktes Spiel Reinheit und Torentum in einem einzubüßen.
    Dass zwischen weiblicher Verführung und männlicher Selbsterkenntnis ein intimer Zusammenhang besteht, behauptet das jüdisch-christliche Abendland seit dem Sündenfall. Adam erkennt, dass er nackt ist, schämt sich seiner Nacktheit erst, nachdem Eva ihn dazu verführt hat, in den verbotenen Apfel der Weisheit zu beißen. Was folgt, ist bekannt: Die Vertreibung aus dem Paradies.
    Ein Beispiel aus der Welt des heutigen Hochleistungssports macht noch anschaulicher, wie der Mann wissend wird, sobald er vom Weibe erkannt wurde – und wie er seine heldischen Kräfte dadurch verliert.
    Ohne Frage ist Skispringen eine der Sportarten, deren Ausübung größten, ja: Törichten Mut verlangt. Welcher nur halbwegs nachdenkliche Mann wäre bereit, sich mit über hundert Stundenkilometern von einem Schanzentisch zu stürzen, um 120, 130 Meter und mehr durch die Luft zu fliegen? Die knabenhaften Skispringer, von denen im Allgemeinen angenommen wird, dass sie noch kein Sexualleben besitzen, sind somit die idealen Heldentoren unserer Tage. Und keiner erfüllte für die Deutschen das Bild des unschuldigen Helden, der Wunderdinge wie im Traum vollbringt, mehr als Sven Hannawald. Doch dann präsentierte der strahlende Sieger der Vier-Schanzen-Tournee plötzlich eine Freundin. Seither gewann er keinen einzigen Wettkampf mehr, zog sich bald ganz aus seinem Sport zurück. Der Torenmut, von dem die Rede war, schien ihn verlassen zu haben. Die Freundin hatte aus Hannawald, dem gedankenlosen Überflieger, Hannawald, den Grübler, gemacht. Und wie wir spätestens seit Hamlet wissen, sind Grübler für übermütige Heldentaten kaum mehr zu gebrauchen.
    Aber zurück zu Parsifal und seinem weiteren Verführungs- und Erkenntnisweg. Als raffinierte Kinderschänderin nutzt Kundry Parsifals frisch erwachte Schuldgefühle, indem sie ihm klarmacht, dass er seine Schuld am Tod der Mutter nur tilgen kann, indem er jetzt ihr die Liebe schenkt, die er dieser entzogen hat. Solch zwingender sophistischödipaler Logik ist der Tor, der bereits auf die schiefe Bahn der Selbsterkenntnis geraten ist, natürlich hilflos ausgeliefert. Er lässt sich von Kundry küssen.
    Und dann. Dann passiert es. Das Unerwartete. Das Bizarre. Kundrys Schock. Parsifal macht nicht weiter, lässt seinen frisch geweckten Sexus nicht von der Leine – ganz anders als Wagners Siegfried, der sich vom anfänglichen Schrecken rasch erholt, dass das Wesen auf dem Feuerfelsen, das er gerade aus der Rüstung geschält hat, kein Mann ist, und Brünnhilde instinktsicher zum Vollzug drängt. Parsifal stößt Kundryweg und fasst sich an die Stelle, an der sich bei Amfortas die Wunde befindet-wo auch immer diese sein mag. Kundrys Kuss löst eine wahre Erkenntnisexplosion in ihm aus. Allerdings eine ganz andere als jene, die Kundry prophezeit hatte, als sie sang: »Bekenntnis wird Schuld in Reue enden, Erkenntnis in Sinn die Torheit wenden.« Kundry meinte wohl eher – siehe Adam, siehe Hannawald – Parsifal durch den Sex mit ihr aus seinem larvenhaften, autistischen Torentum zu reißen, ihn mit sich selbst zu konfrontieren, die Blase seines eigenen selbstzufriedenen Ichs, die ihn bisher schützend umgeben hatte, platzen zu lassen. Doch Parsifal schlägt einen völlig anderen Erkenntnisweg ein, er beginnt zu delirieren: »Amfortas! Die Wunde!« Der soeben wach geküsste Sexualtrieb lässt ihn schockhaft begreifen, was er damals in der Gralsburg gesehen hat. Amfortas hat dieses »furchtbare Sehnen«, dieses »sündige Verlangen« auch gespürt, hat sich auch von dieser Frau küssen lassen. Und seither blutet der Mann. Gott hilf!
    Damit sind wir im Zentrum des Parsifal angelangt. Der Tor hat seine Prüfung bestanden, indem er zurückschreckt vor den Verlockungen des Weibes, der Tücke der

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