Achilles Verse
grinsen dümmlich, andere schmatzen wie Herbert Wehner oder machen komische Geräusche. Klaus Heinrich sagt, ihm fallen dann immer Lateinaufgaben von früher ein: die e-Konjugation, wenn es die überhaupt gibt, und unregelmäßige Verben: War »texi« nun das Perfekt von »tegere«?
Jaja, okay, Läufer spinnen. Schon klar. Ich auch. Bei längeren Strecken fange ich an zu singen. Das heißt, nicht ich, sondern irgendwas in mir. Es singt mich einfach, ohne dass ich darauf Einfluss hätte, zum Glück lautlos, gedachter Gesang eben. Meistens geht es los mit »Running on empty«, von Jackson Browne.
Leider ist »Es« nicht textsicher. Ich auch nicht. Deswegen belassen wir es beim Refrain: Running on empty, running on, running blind, running on, running into the sun, but I’m running behind. Unglaublich, wie oft man so einen blöden Refrain vor sich hin singen kann.
Wenn dann auch der letzte Tropfen Blut aus dem Hirn gewichen ist, donnert »Carmina Burana« los, immer nur die Stelle aus »O Fortuna«, wenn das Auftaktgeschrei des Chors verklungen ist und das Gewisper anfängt, das dann immer lauter wird, diese Endlosschleife der 15 Takte: Nöffnöff – nöffnöff – – – nöffnöff – nöffnöff – – – nöffnöffnööffnöööffnööffnöffnöff und so weiter. Geiler Takt zum Laufen, könnte Stunden so gehen. Carl Orff war Jogger, jede Wette.
Irgendwann fängt es dann in den Händen an zu kribbeln. Ich mache ein paarmal eine Faust, dann ist das Gefühl ganz raus aus den Vorderläufen. Fühlt sich an wie Reinhold Messner am Nanga Parbat. Bange Blicke. Wird schon was schwarz? Hing der kleine Finger immer so lasch da rum?
Kleiner Finger, das ist eine gute Überleitung. Das Blut hat sich also praktisch komplett aus dem Oberkörper verabschiedet, bis auf die eine dicke Pipeline von der Lunge übers Herz in die Beine. Interessant daran ist, dass diese Pipeline auf ihrem Weg nach unten das kleinste Körperteil nicht erreicht. Es wäre ja ein Leichtes, ungefähr dort, wo die Beine oben miteinander befestigt sind, ein paar Milliliter abzuzweigen, um vitale Funktionen, sagen wir mal, die Fortpflanzungsorgane, noch ein bisschen mit zu versorgen. Die Natur will sich doch sonst auch immer vermehren, Arterhaltung und so. Aber nicht bei mir. Oder generell bei Läufern nicht. Die sollen sich besser nicht vermehren, hat die Natur offenbar entschieden.
Womit wir mal wieder bei einem Tabuthema wären. Warum zum Teufel guckt dort, wo beim Start vor einer Stunde noch ein mittelprächtiges westeuropäisches Gemächt an den Hüftknochen klatschte, warum lugt dort nach einer Stunde Laufen nur noch
eine Otternase hervor, eine elende Schrumpfgurke, kaum mehr als männlicher Stolz zu erkennen? Will man sich irgendwo diskret an einen Baum stellen, hat man ein Problem, das Ding überhaupt zu fassen zu kriegen. Balletttänzer sollen sich einst eine Hasenpfote in ihre engen Hosen gestopft haben. Bei Läufern ist Platz für ganze Hasen.
Wenn ich nach Hause komme, drücke ich mich immer ganz schnell an Mona vorbei. Zum Glück hat sie wenig Lust, einen Mann anzufassen, der mehrere Ringablagerungen Salzkristalle auf seinem Heldenleib trägt und riecht wie ein Mufflon. »Geh duschen!«, befiehlt sie. Nichts lieber als das, Schatz. Das warme Wasser erweckt den kleinen Achim langsam, sehr langsam, wieder zum Leben. Ob das gesund ist, diese dauernde Schrumpfkur? Wenn wir früher Schielwettbewerbe ausgetragen haben, hat meine Mutter immer gesagt, wir sollen aufhören, sonst bleiben die Augen so stehen. Was wäre, wenn … also, äh – nicht auszudenken. Zahlt die Krankenkasse das? Gilt das als Sportunfall? Gibt es einen Club der anonymen Schrumpfschniedel?
Ich habe das Handtuch umgeschlungen, als Mona ins Bad kommt. »Naaa, wo ist denn mein kleiner Achim?«, fragt sie kess und durchsucht mit routinierten Griffen die Frotteefalten. »Da isser ja«, sagt sie froh. Offenbar keine Auffälligkeiten. Puuhh, Glück gehabt. Ich werde über kurz oder lang auf die Sprintdistanz umstellen.
Entertainment please
Man kann es beim besten Willen nicht schönreden. Lange Läufe, ganz allein absolviert, sind stinkend langweilig. Glückwunsch an alle, die sich zweieinhalb Stunden lang mit ihren Gedanken beschäftigen können. Seit Musikgeräte auf Scheckkartengröße geschrumpft sind, kann man endlich die Ilias hören oder die besten Reden von Helmut Schmidt. Manche lernen eine Fremdsprache. Oder hören alle Bach-Kantaten nacheinander. Hilft alles nix. Lange
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