Achsenbruch
Anweisungen durchgab, hatten die Auftragnehmer – egal ob Männlein oder Weiblein – zu schweigen.
»Maria?«, flüsterte Mager.
Susanne nickte und legte ihre freie Hand über das Mikro: »Das Dossier von der Sonnenschein!«
»Ausdrucken?«
»Mach!«
Mager nickte, goss sich einen Kaffee ein und verzog sich in sein Archiv. Hier saß er immer noch am liebsten: Erstens schätzte er diesen Raum, weil er dort noch rauchen durfte, zweitens lagerten hier sämtliche Filmrollen aus der 16-mm-Zeit und drittens ging das Fenster zum Hof hinaus.
Von da aus hatte er einen guten Blick auf das Hinterhaus, das in seinem privaten Wertesystem das Reich des Bösen war.
Während sein Computer hochfuhr und Kalle draußen die Scheiben des Skoda polierte, zündete Klaus-Ulrich Mager sich die erste Zigarette des Tages an und schaute hinaus. Dieser Hinterhof tief im Westen Dortmunds symbolisierte beruflich die letzten fünfundzwanzig Jahre, also fast die Hälfte seines Lebens – und privat noch viel mehr. Denn durch eine bizarre Verknüpfung von Lebensentscheidungen und Zufällen wohnten hier auch jene drei Frauen auf engstem Raum zusammen, mit denen er insgesamt über dreißig Jahre seines Lebens geteilt hatte.
Sein unbestreitbarer Lebensmittelpunkt war das Vorderhaus, in dem er gerade saß. Hier residierte die PEGASUS FILM UND VIDEO GbR, die er einst mit seiner Jugendliebe Susanne Ledig gegründet hatte. Gemeinsam wollten sie mit sozialkritischen Reportagen die Macht der Herrschenden erschüttern – und mussten oftmals froh sein, für irgendeine Baumarktkette eines dieser Endlos-Videos über die Vorzüge einer neuen Schleifmaschine drehen zu dürfen. Und es war verdammt lang her, dass sie mit ihrem roten Lada-Kombi durchs Ruhrgebiet gezogen waren, um der Polizei bei Ermittlungen gegen den blühenden Rathausfilz und machtgeile Politiker zu helfen. Natürlich auf die ihnen eigene Art und Weise.
Inzwischen war Susanne Alleininhaberin der Firma und zudem in jener Partei gelandet, die es nach Magers Meinung schon seit neunzig Jahren nicht mehr verdiente, in den Medien als ›rot‹ bezeichnet zu werden. Dieser Schritt hatte PEGASUS manchen lukrativen Auftrag verschafft, Susanne aber zu Kompromissen veranlasst, die ihren Kameramann bisweilen an den Rand der Alkoholsucht trieben. Umso mehr schätzte Mager es, dass die Chefin trotz des Aufschwungs bescheiden über den Büros im ersten Stock des PEGASUS-Hauptquartiers wohnte – in dessen Dachgeschoss er selbst ein paar Jahre gehaust hatte.
Während Karins Schwangerschaft wäre Mager am liebsten ins Hinterhaus gezogen. Dort hatten sich einst die entscheidenden Dramen seiner gescheiterten Ehe mit Kalles Mutter Mechthild abgespielt. Aber diese weigerte sich beharrlich, ihre Zwingburg zu verlassen, und terrorisierte nun dort ihren zweiten Ehemann, einen berufsmüden Lehrer, der zu spät gemerkt hatte, dass es noch schlimmere Menschen gab als seine Schüler.
Kurz vor Theos Geburt aber wurde das rechte Vorderhaus frei: Die türkische Familie, die dort viele Jahre gewohnt hatte, bezog ein schickes Eigenheim am Ende der Steinhammerstraße und bot ihre alte Hütte zum Verkauf an. Bevor Mechthild und ihr neuer Ehemann davon Wind bekommen konnten, renovierten Mager und Karin den Bau und verfügten dort über mehr Platz, als ihnen das Hinterhaus geboten hätte. Zudem war Magers zweite Gattin heilfroh darüber, nicht in Räumen leben zu müssen, in denen auf ewig der Ungeist ihrer Vorgängerin herumspuken würde. Es reichte schon, dass Mechthild und die Bewohner der beiden Vorderhäuser dieselbe Hofeinfahrt benutzen mussten. Dadurch waren Konflikte geradezu vorprogrammiert.
»Klaus!«
Susanne stand im Flur, Ungeduld in den Augen. »Fertig?«
»Gleich …« Hektisch klickte er sich durch mehrere Verzeichnisse und suchte den Ordner, in dem Artikel und Notizen über Ruhrgebietspolitiker gespeichert waren. Die Datei mit dem Namen Sonnenschein suchte er vergeblich.
»Mach schon!«
»Ja doch. Bin gleich soweit!«
Susanne war weniger zuversichtlich. Energisch schob sie seinen Schreibtischstuhl zur Seite: »Weg da, ich mach’s schon. Sonst kommt noch eine Neuauflage des Kommunistischen Manifests aus dem Drucker.«
Minuten später saßen sie zu dritt im Wagen. Kalle steuerte das Fahrzeug geschickt durch die enge Ausfahrt, zog den Octavia dann nach rechts und raste viel zu schnell die enge Steinhammerstraße entlang in Richtung A 40, die in Dortmund immer noch B 1 hieß.
»Und was sagt der
Weitere Kostenlose Bücher