Achsenbruch
bekamen auch sie einen dieser Posten.
Dieses ›Bochumer Modell‹ hatte sich über Jahrzehnte bewährt. Die Auserwählten fühlten sich gebauchpinselt, weil sie ein hohes Amt erhalten hatten, und ihre Fraktionen waren damit im Streitfall bereits halb entwaffnet: Weil sie ja offiziell zur Stadtspitze gehörten, verbot sich jedes ernsthafte Aufbegehren von selbst. Auch die diversen Oberbürgermeister profitierten von diesem Verfahren, denn sie konnten Repräsentationspflichten zweiter und dritter Güte an ihre dankbaren Hilfskeulen weiterreichen. Zu sagen hatten diese Möchtegern-Stellvertreterinnen im Grunde genommen aber nichts.
»Alle da?«
Sonnenschein sah in die Runde. Wer noch fehlte, war wie immer Hartmut Potthoff, der schwergewichtige Boss des Bauamtes. Anfangs hatte der Mann stets seine Verspätungen damit entschuldigt, der altersschwache Paternoster würde wegen seines Gewichts nur zentimeterweise vorankommen – aber dieser altertümliche Endlosaufzug war schon seit Jahren außer Betrieb. Wurde wirklich höchste Zeit, diesem selbstherrlichen Fettkloß einen Denkzettel zu verpassen, dachte die OB.
Sie räusperte sich: »Also gut. Frau Bürgermeisterin, meine Herren!«
Es klopfte kurz an der Tür und ohne eine Antwort abzuwarten, steckte Sonnenscheins Sekretärin ihren Kopf durch den Türspalt. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Aber da ist ein äußerst wichtiger Anruf für Sie, Frau Sonnenschein.«
Die OB atmete übertrieben seufzend aus. »Kann das nicht warten? Wer ist es denn?«
»Die Polizei. Man wollte mir nicht sagen, worum es geht. Aber es sei sehr dringend.«
Die kleine Frau mit dem hohen Amt erhob sich mit einer Geste der Entschuldigung und ging direkt an den Apparat im Vorzimmer, um das Gespräch entgegenzunehmen.
In diesem Moment traf Potthoff ein. Er atmete schwer, weil er offensichtlich die Treppe genommen hatte, und auf seiner Glatze glänzte ein leichter Schweißfilm.
Als er Sonnenschein noch im Vorzimmer sah, stutzte er. Und gemeinsam mit der Sekretärin wurde er Zeuge, wie die Augen der Oberbürgermeisterin sich plötzlich weiteten. Ihr Gesicht entfärbte sich und sie stammelte: »Wie bitte? Lukas? Tot?«
Dann sank sie, die rechte Hand vor den Mund gepresst, auf einen Stuhl und schluchzte los.
4
Auf dem Hof galt Magers erster Blick dem Zustand seines Dienstwagens, der hinter dem Nachbarhaus stand. Auf den Scheiben des silbergrauen Skodas perlte der Tau des Sommermorgens und die Hecktür war noch geschlossen – Kalle hatte noch nicht einmal begonnen, die Ausrüstung zu verladen. Offenbar hatte der Bursche inzwischen völlig vergessen, was mit dem Begriff ›Tempo‹ gemeint war.
Der Bärtige eilte an der Durchfahrt zur Straße vorbei und enterte die kleine Treppe, die zum zweiten der beiden Vorderhäuser führte. Als er die Tür aufstieß, prallte er mit seinem Erstgeborenen zusammen, der mit Kamera und Gerätekoffer beladen war.
»Wo bleibst du denn?«, fuhr ihn der Sohn an. »Wir müssen als Erste in Bochum sein.«
»Und warum ist der Wagen noch nicht startklar?«
»Soll ich alles …«
»Sollst du, Kalle. Genau das ist dein Job. Du bist hier nur Assistent! Und wenn hier einer herummeckern darf, dann bin ich das. Verstanden? Ist wenigstens mein Kaffee fertig?«
Kalle fehlten die Worte. Was war bloß los mit dem Alten? War in letzter Zeit nur noch auf Konfrontationskurs.
»Und was ist mit Susanne?«
»Die telefoniert gerade mit dem WDR.«
»Wunderbar. Dann ist ja doch noch Zeit für einen Kaffee. Sieh zu, dass du inzwischen den Wagen fit bekommst.«
Mager schob sich an seinem Sohn vorbei in die Firma. Sie bestand noch immer aus einer Nasszelle und drei Arbeitsräumen, von denen der größte sein Filmarchiv und das inzwischen veraltete Mischpult barg: Videosequenzen wurden längst am Computer geschnitten.
Die Luft war so stickig, dass er in seiner Lederjacke sofort einen Schweißausbruch bekam. Überhaupt war die Kutte bei diesem Wetter völlig ungeeignet. Zum Glück hing noch seine Jeansjacke über der Stuhllehne.
Während er Geldbörse, Handy und Zigaretten zum zweiten Mal an diesem Morgen umpackte, warf er einen Blick in das Büro der Chefin. Susanne schwebte, die Füße auf der Tischkante und einen Telefonhörer am Ohr, in ihrem Kippsessel und legte warnend einen Finger auf die Lippen.
Der Kameramann verstand. Beim Sender gab es seit zwei Jahren eine Chefin vom Dienst, deren Durchsetzungsvermögen sich gewaschen hatte. Und wenn sie am Telefon ihre
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