Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Achsenbruch

Achsenbruch

Titel: Achsenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Junge
Vom Netzwerk:
sollte!«
    »Finde ich auch«, meinte Karin und ließ ihre rote Mähne auf und ab wippen. Demonstrativ musterte sie das T-Shirt und die ausgefransten Jeans ihres Mannes. Beide waren einmal tiefschwarz gewesen, hatten sich aber inzwischen den grauen Strähnen in Magers Bart und Haupthaar angepasst.
    »Lenk nicht ab! Das Teil war nagelneu. Bis vor einer halben Minute, als dein Sohn …«
    »… unser Sohn …«
    »… dieses Blag da die Jacke von der Garderobe gerissen hat!«
    Karin zog die Schultern hoch: »Wer kauft auch schon eine Lederjacke, wenn der Aufhänger am Futter befestigt ist statt am Kragen!«
    »Ja, klar, ich bin wieder schuld. Und warum kommst du nicht wie jede gute Hausfrau mit, wenn ihr Mann neue Klamotten braucht? Und was ist mit dem Theater, das Theo immer …«
    »Wie hast du mich genannt? Hausfrau? Bei dir piept es wohl!«
    Karin warf das Messer auf den Tisch, mit dem sie gerade fettarmen Quark auf Theos Dinkelbrot strich: »Hier, mach du deinem Sohn das Frühstück! Hättest die Jacke eben vernünftig auf einen Bügel hängen sollen.«
    »Verstehst du nicht? Die ist im …«
    Mager fing einen warnenden Blick seiner zweiten Ehefrau auf und ließ seinen Satz anders enden. »Die ist hinüber! Zweihundertfünfzig Euronen sind futsch.«
    »Unsinn. Die kannst du umtauschen.«
    »Bestimmt nicht«, jammerte Mager. »Diese Sondergrößen sind immer zuerst weg.«
    »Sondergrößen?«, fragte Karin erstaunt. »Ach ja, die Ärmel. Von Größe kann man dabei aber nicht reden. Auch nicht von Länge. Eher von extra kurz. Damit du nicht darin ertrinkst. Und dafür hast du fünfhundert Mark …«
    Mager gab es auf und goss sich, noch immer stehend, eine Tasse Kaffee ein. Dabei fiel ihm auf, dass der Sohn sich verdünnisiert hatte.
    Eilig stellte er den Becher ab und walzte los. Schon halb auf der Treppe, fiel ihm auf, dass die Toilettentür weit offen stand. Ihr Sohn saß mit heruntergelassenen Hosen auf dem Thron und versuchte, aus einem Stück Toilettenpapier eine flugfähige Schwalbe zu basteln.
    »Wieso sitzt du hier herum?«
    »Papa«, sagte Theo tadelnd. »Wenn ihr euch schon am frühen Morgen streitet, bekomme ich Durchfall.«
    Einen Augenblick schwankte der Erzeuger zwischen Lachanfall und Kindsmord. Kurz bevor die zweite Reaktion siegen konnte, klingelte das Telefon. Immer noch kochend drückte Mager die grüne Taste: »Ja?«
    »Guten Morgen, Väterchen!«, meldete sich Kalle. »Was ist? Wir warten!«
    »Dein Bruder hat gerade …«
    »Uninteressant«, unterbrach ihn sein Erstgeborener. »In Bochum ist gerade eine Bombe explodiert. Vor dem Haus der Oberbürgermeisterin!«
    »Woher weißt du das schon wieder?«
    »Woher wohl? Atze!«
    Atze war ein Freak, der von morgens bis nachts den Äther über dem Ruhrgebiet abhörte und Wichtiges gegen Geld weitergab. Wenn die Polizei ihre Nachrichtenwege wie geplant digitalisierte und verschlüsselte, musste er sich einen anderen Zusatzverdienst zu Hartz IV suchen.
    »Ich bin schon unterwegs!«, versicherte Mager und atmete erleichtert auf: Jetzt musste sich Karin darum kümmern, den widerspenstigen Sohn pünktlich in die Tagesstätte zu bringen.
    Eilig räumte der Bärtige seine ruinierte Lederjacke aus und stopfte alles, was er fand, in die Taschen ihrer Vorgängerin. Hätte er auf seine Ehefrau gehört, wäre das abgeschabte Stück schon vor Monaten in der Kleiderkammer der Obdachlosenhilfe gelandet. Aber jetzt zeigte sich, dass sich Sturheit auch mal auszahlte.
    »Gesegnete Mahlzeit«, knurrte er, trank noch einen Schluck Kaffee und warf einen wütenden Blick auf den Sohn, der jetzt brav am Tisch saß und sein Biobrot mampfte. Verräter, dachte er und verschwand im Treppenhaus.
    3
    »Morgen, Hiltrud. Was liegt an?«
    »Wird voll heute, Frau Sonnenschein.«
    Die Oberbürgermeisterin beugte sich über den Terminkalender, den die Sekretärin ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte: Zuerst war die Steuergruppe angesagt, dann gab es bis mittags Einzelgespräche im 15-Minuten-Takt, anschließend hatte sie einen Kindergarten und eine eiserne Hochzeit zu besuchen, bevor sie sich zur Montagsrunde mit dem Personalrat traf.
    Die Sekretärin wartete geduldig ab und musterte – zum wievielten Mal eigentlich – die gestochen scharfen Reptilienfotos, die gerahmt an der Wand hinter dem Schreibtisch hingen. Am besten gefiel ihr das mittlere Bild, ein Chamäleon. Ob die Sonnenschein sich manchmal wünschte, sie wäre Fotografin geworden?
    »In Ordnung, Hiltrud. Haben Sie

Weitere Kostenlose Bücher