Acqua Mortale
nickte.
»Wann?«, fragte sie.
»Um zwanzig nach acht.«
Sie schien nachzudenken. »Wo?«
»In der Nähe von Zappaterras Sandgrube. Richtung Francolino …«
»Ich weiß, wo sie liegt.«
»Wann hat er das Haus verlassen?«
»Um 19.40 Uhr.«
»Was hat er Ihnen gesagt. Wo wollte er hin?«
Sie zuckte mit den Schultern und fragte: »Was war das für ein Auto, das Sie attackiert hat?«
»Ein blauer Punto.«
»Sehen Sie, so ein Auto haben wir nicht. Und auch Beppe Pirri nicht.«
»Wer ist Beppe Pirri?«
»Sein Freund, mit dem er normalerweise Donnerstagabend Tennis spielt.«
»Normalerweise. Heute nicht?«
»Beppe Pirri hat ihn abgeholt. Aber Vito hatte noch irgendeinen Termin.«
»Was für einen?«
»Das weiß ich nicht, wirklich nicht.«
»Und das Auto von Pirri?«
»Ein weißer Geländewagen. Ein BMW, glaube ich.«
18
Herkules, Sohn des Zeus, halb Mensch, halb Gottheit, bewies schon als Neugeborener seine sprichwörtliche Tatkraft. Die Giftschlangen, die ihm seine eifersüchtige Stiefmutter in die Wiege legte, erwürgte er mit seinen Speckfingern. »Herkules« heißt auf Italienisch »Ercole«. Und Ercole I., aus dem Geschlecht der Este, gilt als der genialischste Herrscher, den Ferrara je hatte. In nur vierunddreißig Lebensjahren zeugte er acht eheliche und eine unbekannte Anzahl unehelicher Kinder. Man sagt Ferrara nach, es sei in der Menschheitsgeschichte die erste neuzeitliche Stadt, mit rationalistischem urbanistischem Grundriss. Denn Ercole gab um 1490 herum seinem Hofarchitekten Biagio Rossetti den Auftrag, einen Plan für ein neues Ferrara zu entwerfen, drei Mal größer als das alte. Die Grundfläche wurde so uferlos, dass sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg ausgefüllt wurde. Auch deshalb, weil für die Pläne des Herrschers so horrende Steuern und Abgaben erhoben werden mussten, dass der Bevölkerung zum Wachstum keine Kraft blieb. Und noch heute stößt man innerhalb der Stadtmauern auf Wiesen und Ackerland, ja einen kompletten Bauernhof. Die zu errichtende Stadtmauer hatte einen Umfang von fast zehn Kilometern. Mit den notwendigen Ziegeln hätte man eine weitere Stadt errichten können. Die Schlüsselgebäude – die Residenz der Herrscher, die Kathedrale, das Kastell, die Kartause – innerhalb dieser Mauern wurden auf Kardinalpunkten positioniert, die einem Sternbild entsprachen. Dem Sternbild zu Ercoles Geburtsstunde. Die Stadttore wurden so aufdie Himmelsrichtungen abgestimmt, dass positive kosmische Energie herein- und negative abfließen konnte. Das Stadtbild stammte also nicht von einem absolutistischen Herrscher oder seinem begabten Architekten, sondern von Ercoles persischem Hofastronomen, einem der bestbezahlten Fachleute seiner Zeit.
Das Glanzlicht der Herkulischen Stadterweiterung, auf dem Kreuzungspunkt der beiden Hauptverkehrsachsen gelegen, war der Palazzo dei Diamanti , dessen 8500 weiße Diamanten, mit denen die Fassade verkleidet ist, nur scheinbar eine je gleiche Form haben. In Wahrheit sind die Spitzen der pyramidenförmigen Ausbuchtungen so geschliffen, dass sie auf den Betrachter weisen und so die perspektivische Wirkung erhöhen. Ein Bluff.
Man weiß also nicht, gedeiht die Ferrareser Volksseele auf dem architektonischen Humus des Illusionismus, des neuzeitlichen Rationalismus, der orientalischen Sternenmagie oder einfach auf der eitlen Ichsucht eines Tyrannen. Tatsache ist, dass die Questura , das Hauptkommissariat der Polizei, in einem wuchtigen, aber recht nüchternen Palais vis-à-vis vom Palazzo dei Diamanti liegt.
Michele Balboni, der Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte, war an diesem Freitagmorgen gut gelaunt zur Arbeit erschienen. Er war froh, dass das Verfahren gegen seine Kollegen vertagt worden war und in der Stadt vorerst wieder Ruhe einkehrte. Es hatte seiner guten Laune auch keinen Abbruch getan, dass man ihm einen deutschen Radwanderer ankündigte, der unbedingt Anzeige gegen unbekannt erstatten wollte, weil ein Autofahrer ihn auf dem Deich hatte umbringen wollen. Balboni hatte eine Schwäche für Deutsche. Er mochte ihre Art, Fußball zu spielen und in den entscheidenden Partien gegen Italien zu verlieren. Und beim Rugby waren sie einfach nur jämmerlich. Einmal hatte er eine deutsche Klub-Mannschaft in Ferrara auflaufen sehen. Breitschultrige Recken, furchterregende Übermenschen, wie aus einem Handbuch des Lebensborns der Nazis. Orientierungslosund tumb waren sie auf dem Feld herumgewankt, ohne einen vernünftigen Pass zu spielen, ohne
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