Acqua Mortale
ihre Angriffe abwehren konnte. Er überwand sich und bot ihm erst einmal die offene Handfläche, der Hund fing zu schnuppern an, bellte, schnupperte wieder. Dann fing er an, im Kreis zu traben und zu heulen. Lunau hatte nur den Fluss hinter sich, der Nachbargarten lag hinter einem hohen Bretterzaun. Wenn er versuchte, hinüberzuklettern, würde der Hund vermutlich nach seinen Füßen schnappen. Lunau richtete sich auf, ging auf das Tier zu und murmelte » bravo, fai il bravo «. Das Tier glotzte. Lunau ging weiter, der Hund protestierte verhalten und folgte, bis Lunau auf dem übernächsten Grundstück war. Lunau legte sich ins Schilf und wartete. Ein Fensterladen schlug auf, jemand rief nach dem Hund. Das Tier antwortete mit wütendem Gekläffe. Lunau wollte warten, bis Stille eingekehrt war, aber da kam eine Taschenlampe durch die Finsternis. Lunau ließ sich rückwärts die Böschung hinabgleiten, seine Füße fanden auf Wurzelwerk Halt. Die Taschenlampe fuhr über seinen Kopf hinweg und verschwand wieder. Mitsamt dem Hund.
Die nächsten Grundstücke durchquerte Lunau ohne Mühe. Aus Di Natales Haus fiel ein Lichtschein in den Garten, aber hinter der Glastür und den beiden Fenstern der Rückfront war niemand zu sehen.
Lunau setzte das Audio-Equipment ab, als er einen Schatten an der Rückwand des Wohnzimmers sah.
Silvia Di Natale ging in dem weiten Raum auf und ab, warf sich aufs Sofa, stand wieder auf, blieb stehen, um in den Flur zu lauschen, dann ging sie weiter.
Lunau marschierte durch die feuchte Wiese auf die große Glastür zu und klopfte.
Silvia Di Natale fuhr herum. Einen Moment lang leuchtete ihr Gesicht, aber das freudige Strahlen erstarb sofort, als sie Lunau erkannte.
Sie zog die Schiebetür einen Spalt weit auf.
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Was fällt Ihnen ein?«
»Es ist dringend. Es geht um Ihren Mann.«
»Der ist nicht da.«
»Ich weiß.«
Sie schaute einen Moment unschlüssig über das finstere Grundstück. Ihre Augen waren gerötet, ihr Atem roch nach Alkohol.
»Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei.«
Lunau spürte, wie das Blut in seinen Schläfen pochte. Er dachte an Di Natales Gesicht hinter der Scheibe, den Moment, wie er mit dem Rad abgehoben hatte. Er betrachtete Silvias Lippen und fragte sich wieder, ob sie falsch waren.
»Bitte, ich habe vorhin Ihren Mann gesehen.«
Sie erstarrte. »Wo?«
»Auf dem Deich.«
»Wann?«
»Wollen Sie mich nicht einen Moment hereinlassen?«
Sie zögerte und betrachtete Lunaus Schrammen. »Lieber nicht.«
»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«, fragte er.
»Ich verstehe nicht, was Sie das angeht.«
»Die Umstände, unter denen ich Vito getroffen habe …«
»Was für Umstände?«
Hinter Lunau bellte wieder ein Hund. Er sah sich in dem Garten um, in dem die Büsche finstere Wolken bildeten. »Kann ich ganz offen zu Ihnen sein?«
»Hören Sie, ich bin hundemüde. Morgen habe ich die ersten Stunden zu halten. Können Sie zum Punkt kommen?«
»Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber Ihr Mann saß in einem Auto, das genau auf mich zufuhr.«
Sie runzelte die Stirn und fragte: »Was heißt das?«
»Hat Ihr Mann irgendetwas mit Marco zu tun?«
»Wovon reden Sie? Welchen Marco meinen Sie?«
»Marco Clerici, den Jungen, der vor vier Jahren ums Leben kam.«
Sie machte eine kraftlose Geste. Dann griff sie nach dem Hebel an der Schiebetür.
»Ich bin nach Ferrara gekommen, um zu Marcos Tod zu recherchieren«, setzte Lunau neu an.
»Ich dachte, Sie wären am Fluss interessiert.«
»Auch. Aber die spannendere Geschichte schien die von Marco zu sein.«
»Sie meinen, Sie haben meinen Mann getäuscht?«
»Nein.«
»Bedaure, das ist mir alles zu hoch. Vielleicht bin ich nicht mehr ganz bei mir, aber ich verstehe Sie nicht.«
»Ich fange an, mich für einen ungeklärten Mord zu interessieren, und zehn Stunden später versucht man, mich zu überfahren.«
»Was hat das alles mit Vito zu tun?«
»Das ist es doch, was ich Ihnen erklären will. Ihr Mann steuerte den Wagen, der mich attackierte.«
Sie schüttelte den Kopf und verzog den Mund zu einer säuerlichen Schnute. Dann warf sie die Tür zu und verriegelte sie. Sie stand da und schaute Lunau in die Augen. Lunau betrachtete ihre grünen Pupillen, die Augäpfel, die gerötet waren, als ob sie geweint hätte. Sie überlegte, ob sie die Tür wieder aufmachen sollte. Rief aber durch die Scheibe: »Sie haben Vito wirklich gesehen?«
Lunau
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