Acqua Mortale
sie sich noch im Auto danach gesehnt, ihn zu sehen, ja ihn sogar zu umarmen, jetzt empfand sie nur Trauer und Wut.
»Wie geht es dir?«, fragte sie. Er legte den Zeigefinger auf dieLippen, setzte sich auf einen Stein und schlug mit dem rechten Handballen einen starren Vierertakt auf seiner Trommel, dann setzten die Fingerspitzen der Linken mit schweren Synkopen ein.
»Du bist traurig?«, fragte sie.
Der Mann schien nur noch auf seine Trommel zu hören.
»Du weißt also, was heute für ein Tag ist?«
Keine Reaktion, nur der Trommelschlag.
»Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen.«
Die Trommel setzte aus.
»Keine Angst, nur für eine halbe Stunde. Ich will, dass du mit mir zu Mama kommst.«
Er schüttelte den Kopf und wies mit einer vagen Geste auf seine Herde.
»Das machen die Hunde schon alleine.«
Er stieß einen heiseren Laut aus, der nach Protest klang.
»Nur eine halbe Stunde.«
Sie griff nach seiner schwieligen Hand, in der grobe Knochen steckten, die aber erstaunlich feine Rhythmen schlagen und, mit der Präzision eines Künstlers, Ornamente und Basreliefs schnitzen konnten. Der Vater hatte die hölzernen Getreidesiebe, auf die er die Ziegenhäute spannte, mit Fabelwesen versehen, die in einer endlosen Prozession im Kreis gingen. Bizarre Mischungen aus Hund und Schwein, Lurch und Gockelhahn, die einander in den Schwanz bissen, einander zu begatten schienen, ein Knäuel, das niemals endete, so lange man die Trommel auch drehte. Als kleines Mädchen hatte sie sich gegruselt, wenn diese Gestalten sich allmählich aus dem Holz schälten und ihr Vater seine Beschwörungsformeln murmelte.
»Tu es für Mama.«
Er riss sich los, und plötzlich funkelte Zorn in seinen Augen. Er zerrte am Kragen seines Ponchos, die Halsschlagader schwoll an, und er fuhr sich mit den Nägeln durchs Gesicht.
»Papa! Papa!«
Als sie ihm in den Arm fallen wollte, erwischte er sie mit einer schallenden Ohrfeige. Sie war nach der Fastenwoche noch nicht wieder bei Kräften, ihre Beine knickten weg, und sie schlug in das hohe, feuchte Gras. Und da war sein beißender Atem über ihr. Seine Bartstoppeln rissen an ihrer Haut, seine Lippen …
Sie rappelte sich auf, wie eine Schlange entwischte sie ihm, auf allen vieren kroch sie die Deichflanke hoch. Sie trat panisch nach den Schafen, die sich um ihr Auto geschart hatten, riss die Tür auf, warf sich auf den Fahrersitz und betätigte die Zentralverriegelung. Sie klammerte sich an das Lenkrad und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Sie dachte an ihre beste Freundin, Katia, die auf der anderen Seite des Deiches gewohnt hatte, an die wohlig warme Wohnküche, in der abends ihre Eltern warteten, mit einem Tischgebet, einer dampfenden Minestrone und einer süßen reifen Birne, die immer aufrecht neben dem Teller stand. Wenn Dany Katias Familie sah, dann nagte der Neid an ihren Eingeweiden. Dann stellte sie sich vor, wie Katia starb, und wie sie, Dany, ihre Stelle einnahm, gestreichelt und gefüttert wurde, denn sie, Dany, hätte es verdient gehabt. Katia gab ihrer Mutter schnippische Antworten, und einmal sah Dany gar, wie sie einen Geldschein aus der Schublade des Vertikos stahl. Und trotzdem hatte sie den Platz an diesem Tisch, und ihr Vater kaufte ihr jeden Frühling und jeden Herbst ein neues Kleid. Ich bin der bessere Mensch als sie, ich gebe mir so viel Mühe, dachte Dany dann, ich wäre diesen Eltern eine adäquate Tochter, Gott, warum bist du so gefühllos und ungerecht?
Es pochte am Autoblech, und sie riss die Augen auf. Aber es war nicht ihr Vater, es waren die Schafe mit ihren blöden Ärschen und Hufen. Der Vater saß wieder unten auf seinem Stein und trommelte. Sie griff neben sich, nach der bauchigen Strohflasche, öffnete die Tür einen Spalt und stellte den Wein auf die Straße.
Dann startete sie den Motor und betätigte die Hupe, aber davon ließen die Schafe sich nicht beeindrucken. Sie musste sie sanft mit dem Kühler zur Seite drängen, um sich einen Weg zu bahnen. Sie holte den Blumenstrauß von der Rückbank, sog den schweren Duft der Rosen ein und legte sie neben sich auf den Beifahrersitz. Das Rot erinnerte sie an das Blut, das ihrer Mutter damals von den langen Fingern gelaufen war und sich zu einer großen schmierigen Lache auf dem kalten Steinboden gesammelt hatte. Dany war ausgerutscht und der Länge nach hingeschlagen, und als sie sich im Spiegel sah, hatte sie dieselbe rote Schraffierung wie die Mutter.
»Mama«, flüsterte sie, während das Auto langsam
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