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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Foersch
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Wissenschaftlern ein Rätsel. Eines dieser Rätsel, die sie in vollmundige Metaphern kleiden. Sie sprechen von »wandernden Sonnenflecken« und »kosmischem Nebel«, angeblich kam es, Lichtjahre entfernt, im All zu einem Zwischenfall, der die Energiestrahlung der Sonne veränderte. Wie auch immer, die Sonnenstrahlen, die bis zur Erdkruste gelangten, waren weniger intensiv als gewohnt, die Temperaturen auf der Erde sanken, immitteleuropäischen Januar auf ein Mittel von –14 bis –22 °C. Schon bei 0 °C ändert Wasser seinen Aggregatzustand. Es wird zu Eis. Es dehnt sich aus und sprengt Bierflaschen und Körperzellen. In Felsspalten wirkt es wie Dynamit, lässt Bergflanken explodieren und zerkleinert ganze Massive.
    Vor einer Million Jahre zogen sich, während nördlich der Alpen alles festfror und die Wälder abstarben, Wind- und Klimagürtel Richtung Äquator zurück, die Gletscherkrusten auf Gebirgsgipfeln wurden dicker und wuchsen Richtung Flachland. Sie wuchsen so langsam, dass man es mit bloßem Auge nicht sehen konnte. Aber sie hatten Zeit. Wie ein Grashalm, der eine Asphaltdecke knackt. Eine Eiszeit folgte auf die nächste, unterbrochen von Interglazialzeiten. Um das Mittelmeer herum setzte eine Pluvialzeit ein. Der Regen fror fest und bildete neues Eis. Die Eismassen wurden von nachdrängenden Gletschergebilden immer weiter nach Süden verschoben, langsam, aber sicher zermalmten sie alles, was sich ihnen in den Weg stellte: Wälder, Hügel, Bergflanken. Sie trieben Mammuts und Hominiden vor sich her. Wie eine in Zeitlupenbilder eingefrorene Dampframme kam das Eis über die Alpen in das Tiefland, hackte, mahlte und schürfte, schleppte Steinkolosse auf seinem Rücken mit wie ein wütendes Nashorn die Vögel, die ihnen die Parasiten aus den Panzerfugen picken. In den Interglazialzeiten wurde das Eis wieder zu Wasser, in reißenden Bächen schoss es aus Alpen und Apennin zu Tal, wälzte die Steinkadaver Richtung Meer, schwemmte, schliff und schmirgelte, brachte Kies, Sand, Lehm und Schluffe. Schob diese so weit, wie es Kraft und Lust hatte, und ließ alles unaufgeräumt liegen. Aber am Ende sah die Ebene nicht unaufgeräumt aus, sondern wie der Garten Eden: Die Sedimente hatten sich in fruchtbaren Humus verwandelt, der Boden war gesättigt mit Süßwasser. Aus dem Sumpf wucherte es artenreicher denn je, die Flussarme fächerten sich zu einem amphibischen Delta auf, in dem sich riesigeStöre, Sumpffrösche, Feuersalamander und eine Unzahl von Vogelarten tummelten. Die Findlinge konnte man, je nach Größe, als Zufluchtsort vor wilden Tieren, Aussichtspunkt oder Sitzgelegenheit nutzen. Nur die Malariamücken trübten die paradiesische Heiterkeit.
    Der Kosmos brauchte eine Million Jahre, um dem Fluss sein überdimendioniertes Bett zu schaffen, in dem er sich ruhelos wälzen konnte, der Mensch brauchte nur hundert, um ihn in ein Korsett zu schnüren. Der Po, der größte Fluss Italiens, ist heute auf seiner kompletten Länge, über 652 Kilometer, eingedeicht. In den letzten hundert Jahren haben diese Deiche allen Hochwassern, allen Wühlarbeiten von Füchsen, Maulwürfen, Nutrias und Saboteuren getrotzt. Bis auf ein einziges Mal. 1951, als bei Ferrara einer der Norddeiche brach und die Region Venetien innerhalb weniger Stunden um eine Million Jahre in der Erdgeschichte zurückversetzt wurde, nur dass sie nicht von Salz-, sondern von Süßwasser überspült wurde.
    Lunau parkte bei Pontelagoscuro, dem nördlichen Vorort Ferraras. Hier klaffte im Hauptdeich eine fünfzig Meter breite Lücke, durch die ein stummelförmiger, künstlicher Seitenarm des Po auf ein riesiges Metalltor zuführte. Daran schloss sich ein etwa siebzig Meter langes Becken an, das auch auf der anderen Schmalseite von einem Metalltor abgeschlossen wurde. Lunau betrachtete das trübe Wasser in dem Becken, in den der Rumpf von Di Natales Leiche geragt hatte, während die Beine noch im Canale Boicelli steckten. Dort hing rot-weiß gestreiftes Absperrband der Polizei. Sonst deutete nichts auf den Fund hin. Kein Schleusenwärter war zu sehen. Lunau ging um das Becken, stieg den Deich hoch und schaute über den Hauptarm des Po. Serse Rabuffo legte gerade mit seinem Kunstharzboot an.
    »Haben Sie es schon gehört?«, fragte Lunau.
    »Natürlich.«
    Sie standen nebeneinander auf dem Deichkamm und schauten hinunter in das Schleusenbecken.
    »Wo ist er Ihrer Meinung nach ins Wasser gefallen?«
    Rabuffo zuckte mit den Achseln. »Er kann nur aus dem

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