Acqua Mortale
Haare, zierlicher Körper.
»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte sie und gab Lunau die Hand, während es in ihren Augen leuchtete. Nichts in der Wohnung deutete auf Trauer hin. Die Wände waren in satten Farben gestrichen, zahlreiche Lichtquellen schufen eine anheimelnde Atmosphäre. Alle Türen standen offen, auch das zu Marcos Zimmer.
»Es ist ein bisschen spät geworden«, sagte Lunau.
»Das macht nichts, im Gegenteil. Dann können Sie zum Abendessen bleiben.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber das wird sich nicht einrichten lassen«, sagte Lunau. Er suchte einen Moment nach den passenden Worten: »Ich weiß nicht, wie schwer es Ihnen fällt, über Marcos Tod zu reden.«
Die Frau schaute ihm direkt in die Augen, mit einer solchen Intensität, dass er den Blick abwenden wollte: »Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren. Jeder muss für sich entscheiden, wie er damit umgeht. Wir haben uns entschieden zu kämpfen. Was wollen Sie wissen?«
»Mich interessiert vor allem, ob Marco und Vito Di Natale in irgendeiner Verbindung zueinander standen.«
Sie runzelte die Stirn, ihr Kopf zuckte leicht zurück. »Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Ich reise nach Ferrara, um zu Marcos Tod zu recherchieren, kaum bin ich da, versucht Di Natale, mich zu überfahren. Und wenige Stunden später stirbt Di Natale.«
Sie betrachtete Lunau von oben bis unten. »Merkwürdig«, sagte sie. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
»Danke, nein.«
»Wollen Sie Marcos Zimmer sehen?«
Sie ging voraus in einen Raum mit einer Dachschräge. Die Wände mit Postern beklebt, dazwischen Graffiti, ein Verstärker, Keyboards und eine E-Gitarre. Auf den Regalen Taschenbücher und CDs. Boxhandschuhe und Kampfsportgürtel in allen Farben hingen an den Regalpfosten. Das Bett war frisch bezogen und gemacht. Man roch den Weichspüler.
»Da hat am Wochenende eine Freundin von Laura geschlafen. Wir wollten kein Museum daraus machen, aber wir bringen es auch nicht fertig, etwas wegzuwerfen.«
Lunau sah eine ganze Reihe von gebundenen Buchrücken ohne Aufschrift. »Sind das Tagebücher?«, fragte er.
Sie nickte.
»Hat die Polizei sie ausgewertet?«
Sie wehrte verächtlich ab. »Sie haben nur nach Sätzen gesucht, in denen es um Joints oder andere Drogen geht, und daraus haben sie dann die Legende gezimmert, Marco sei ein Junkie gewesen.«
»Haben Sie alle zurückbekommen?«
»Ich musste zwar einen Riesenwirbel veranstalten, aber irgendwann kamen auch die letzten Bände zurück.«
»Hat Marco sich besonders für den Fluss interessiert? Für Naturschutz?«
»Er trennte den Müll und rügte uns manchmal, wenn wir Produkte von bestimmten Konzernen kauften. Aber trotzdem fuhr er lieber mit dem Scooter als mit dem Fahrrad.«
»Also war er kein Umweltfanatiker?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Kannte er Vito Di Natale?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Aber Vito Di Natale hat auch in Marcos Klasse seine Vorträge über den Po gehalten.«
»Wenn das so war, hat es Marco nicht besonders beschäftigt, glaube ich.«
»Und der Unterricht bei Silvia Di Natale?«
»Was war damit?«
»Hatte er ein besonderes Verhältnis zu ihr als Lehrerin?«
»Wie meinen Sie das?«
Ihre Stimme hatte eine andere Färbung angenommen, und Lunau merkte, dass er sich auf vermintes Gelände begab. Er ruderte zurück.
»Haben Sie vielleicht gemerkt, dass er plötzlich eine Passion für deutsche oder österreichische Literatur entwickelt hat?«
»Sie meinten nicht den Stoff, Sie meinten die Lehrerin.«
Lunau machte eine hilflose Geste und sagte: »Ich tappe im Dunkeln, ich versuche einfach herauszubekommen, warum man Ihren Sohn getötet hat.«
»Marco war mit Amanda zusammen, und soweit ich weiß, waren sie sehr verliebt ineinander. Allerdings ist das ein Alter, wo man das Wichtigste nicht mit den Eltern, sondern mit Freunden bespricht. Sie sollten Amanda fragen.«
Lunau streckte die Hand nach einem Tagebuch aus. »Darf ich?«
»Bitte.«
Sie musste sich zu dieser Antwort überwinden. Das Telefonläutete. Während sie den Raum verließ, rief sie: »Sie können sich so viel Zeit nehmen, wie Sie wollen.«
Marcos Handschrift war klein und krakelig. Vor allem war der Kern auf der Zeile winzig, während die Schleifen darunter und darüber weit ausschwangen. Angeblich ein Zeichen für starke sinnliche Impulse. Marcos Mutter hatte den Hörer abgenommen, sich gemeldet, aber seitdem kein Wort geredet. Dann hörte Lunau hastige Schritte.
»Es ist für Sie,
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