Acqua Mortale
durfte er lächeln. Denn beim All-In werden die Karten aufgedeckt. Bluffen sinnlos. Antonio hatte zweiSiebener. Als das Publikum und die anderen Spieler sahen, dass Pirri Ass und Zehn hatte, damit also ein Full House mit Assen, schien auch das letzte Geräusch zu verstummen. Kein Räuspern, kein Knistern von Hosenstoff, sogar die Halogenlampen schienen einen Moment die Luft anzuhalten.
Antonio hatte sich verspekuliert. Der junge Springinsfeld war barfuß in ein Feld mit Brennnesseln gesprungen. Er würde auf allen vieren davonkriechen, mit weniger als 100 000 Euro. Damit war er Opfer, selbst für einen Zauderer wie den Stochastikprofessor. Man würde ihn hetzen, bis er aus Verzweiflung eine Serie von All-Ins spielte. Pirri hatte kein Mitleid.
Der Geber drehte die letzte Karte um. Und dann entlud sich die Anspannung. Es wurde geseufzt und gelacht. Man konnte beim Pokern nur gewinnen, wenn man vernünftig seine Chancen einschätzte. Wenn man Risikobereitschaft und Sicherheitsbedürfnis in ein gesundes Verhältnis zueinander brachte. Der Kitzel beim Spiel war, dass man nie wusste, wo dieses Verhältnis lag. Der Kitzel war, dass man bestraft werden konnte für Sünden, die man nicht begangen hatte, und belohnt wurde für Verdienste, die man nicht erworben hatte. Poker blieb, bei aller Kunst, ein Glücksspiel. Und Glück ist eine Form von Ungerechtigkeit.
Auf dem Filz lag die vierte Sieben.
Pirri versuchte, sich die Konsequenzen genau vorzustellen. Solange er im Hotel war, konnte man ihn nicht behelligen. Ihm standen noch sechs Stunden Schlaf in seinem Zimmer zu. Er musste in diesen sechs Stunden eine Flucht organisieren. Aber wie? Man rüttelte ihn an der Schulter. Er musste aufstehen, den anderen Spielern die Hand geben, auch Antonio. Pirri wollte nicht weg. Pirri wollte den Tisch nicht verlassen. Wieso auch? Pirri schaute seinen Gegner an. Der Junge schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. Und Pirri hätte am liebsten zurückgeschlagen. Er war so jung, dass er nicht wusste, was das Leben bringenwürde: Niederlagen. Ihm würden zuerst die Haare ausfallen, dann die Zähne. Sein Gehör würde nachlassen, sein Augenlicht, er würde langsam den Geruch des Alters verströmen, und dann würden die Frauen anfangen, sich vor ihm zu ekeln. Der glaubte, gewonnen zu haben, weil er besser gespielt hatte! Weil er der bessere Spieler war!
Man zog Pirri aus dem Saal, während ein Blitzlichtgewitter auf ihn einprasselte. In einem Salon reichte man ihm ein Glas Orangensaft, eine üppige, überschminkte Blondine mit riesigen Brüsten hielt ihm ein Mikro vors Gesicht.
»Das war ja nun wirklich Pech, Herr …«, sie zögerte und schaute auf eine Plastiktafel, auf der in riesigen Lettern »Pirri« stand, »… Pirri. Wie haben Sie denn diesen Showdown erlebt, der wohl allen Zuschauern noch lange im Gedächtnis haften bleibt?«
Pirri starrte auf die rotlackierten Fingernägel. Und dann dachte er wieder an seine Frau Erica. An dieses etwas unansehnlich gewordene, einfache Wesen. Er spürte Sehnsucht und eine unendliche Zärtlichkeit. Er widmete ihr diese Niederlage. Er korrigierte sich und sagte, es sei für ihn ein unheimlicher Erfolg, es so weit geschafft zu haben, und das alles habe er auch seiner Frau zu verdanken. Was rede ich nur für einen vollkommenen Bullshit, dachte Pirri, aber er redete einfach weiter, redete und redete, als die Kamera längst ausgeschaltet war, das Mädchen ihm mit einem verlegenen Lächeln das Mikro entwunden und ein Ordner ihn nach draußen bugsiert hatte.
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Lunau hatte sich im Hotel ein wenig ausgeruht und versucht, seine Gedanken zu ordnen. Je länger er nachforschte, desto unwahrscheinlicher wurde, dass Di Natale und Marco in irgendeinerVerbindung gestanden hatten. Aber er wollte auch die letzte Chance nutzen, eine mögliche Verbindung zu entdecken. Sein Gefühl sagte ihm, dass es sie gab.
Das Gebäude, in dem Marco Clerici die siebzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte, war ein schmuckloser, glatt verputzter Kasten aus den achtziger Jahren. Ein Mehrfamilienhaus an der Via Modena , wo die Mieten niedrig waren, weil sich in dem Wohngürtel um die Chemiefabriken nicht nur die Arbeiter einquartiert hatten, sondern auch die Emissionen aus den Schloten. Ferrara gehörte zu den europäischen Städten mit der höchsten Rate an Asthma, Bronchitis und Lungenkrebs.
Marcos Mutter stand auf der Schwelle der Wohnungstür und lächelte freundlich. Ein hageres, außergewöhnlich schmales Gesicht, graue kurze
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