Acqua Mortale
glaube ich«, sagte Frau Clerici. Lunau schaute verwundert auf. Marcos Mutter hatte glühend rote Wangen, ihre Pupillen waren merkwürdig stumpf.
»Niemand weiß, dass ich hier bin.« Lunau ging ans Telefon und meldete sich.
»Du solltest deine Blesshühner aufnehmen und dich aus allem anderen raushalten.«
»Wer sind Sie?«, fragte Lunau. Er versuchte, möglichst unbeeindruckt zu wirken, aber das Blut pumpte in seinem Hals. Die Stimme war künstlich verzerrt.
»Oder hast du die Lektion auf dem Deich nicht verstanden?«
Es knackte in der Leitung.
Lunau starrte Frau Clerici an. »Was hat die Stimme zu Ihnen gesagt?«
»Nur, dass man Sie sprechen möchte.«
»Meinen Sie, er hat mich hereinkommen sehen?«, fragte Lunau und lief in die Küche, um durchs Fenster auf die Straße zu schauen. Der Bürgersteig war gesäumt von parkenden Autos, ein alter Herr führte seinen Hund aus, eine Gruppe von Jugendlichen, die sich knufften und mit einer leeren Bierdose kickten, ein junges Pärchen. Kein auffälliges Gesicht hinter einer Autoscheibe.
»Wer weiß, dass ich hier bin?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Mein Mann, unser Anwalt und Amanda.«
»Niemand sonst?«
»Nein.«
Lunau lief die Treppe hinunter und spähte durch einen Spalt in der Haustür. Nichts Auffälliges. Er verließ das Gebäude durch den Hinterausgang – der Hof war leer –, kletterte über einen Zaun und kehrte über eine Nebenstraße in die Via Modena zurück. Er schritt die geparkten Autos ab, sah in das Foyer einer Sporthalle, hinter die Büsche von Vorgärten. Er konnte niemanden finden und kehrte in die Wohnung zurück.
»Die Stimme war künstlich verfremdet, aber kam sie Ihnen bekannt vor?«, fragte Lunau.
Sie betätigte ein paar Tasten an dem Anrufbeantworter, dann hörte man eine blecherne Stimme: »Ihr solltet vorsichtig sein mit den Lügen, die ihr erzählt. Ihr habt einen Fixer großgezogen, einen Dealer, der an seinem eigenen Dreck verreckt ist. Ihr solltet den Rat eines guten Freundes annehmen.«
Die Konsonanten klangen merkwürdig hart, wie bei einem süditalienischen Dialekt oder einem osteuropäischen Akzent.
»Ist es immer derselbe Anrufer?«
Sie wiegte den Kopf hin und her und sprang im Menü des Anrufbeantworters herum. Lunau hörte verschiedene Telefonate: Beleidigungen, Drohungen.
»Darf ich diese Aufnahmen kopieren? Man kann versuchen, die Verfremdung zu korrigieren.«
Sie protestierte nicht, also speicherte Lunau die Files auch auf seinem Rechner.
Amanda hatte ihm gesagt, wann Di Natale seinen Vortrag in der Klasse gehalten hatte. Lunau schlug den entsprechenden Tag auf. Di Natale wurde nicht einmal erwähnt. Dann blätterte er durch den letzten Tagebuchjahrgang. Er brauchte eine Weile, umsich an die Handschrift zu gewöhnen. »Bis drei bei Amanda. Dann durchs Fenster weg. Ihr Vater ist ein Arsch. Aber sie … Kein Tag, an dem sie mich nicht verblüfft, und erst recht keine Nacht. Wir wollten es uns aufheben für später. Waren von uns selbst enttäuscht, dass wir es nicht aushielten zu warten. Das alles ist mehr, als man sich ausmalen kann. Vor einem Jahr habe ich noch an Selbstmord gedacht. Was wäre ich für ein Idiot gewesen! Nichts hatte ich kapiert, nichts verstanden vom Leben. Wäre ich gläubig, würde ich Gott auf Knien anflehen, dass es immer so bleiben möge.«
Lunau wechselte in ältere Bände, musste sich wieder an eine neue Handschrift gewöhnen, fand aber auch dort nichts, was auf Vito Di Natale oder seine Behörde verwiesen hätte. Er stieß statt dessen auf »das erste Mal«: »Ich hätte nicht gedacht, dass die Körper dabei völlig verschwinden. Man ist nur noch im Körper des anderen, und gleichzeitig spielen die Körper keine Rolle mehr. Man spürt sich wie noch nie vorher, weil man nur den anderen spürt.«
Dann kam eine lange Abhandlung über die Form von Amandas Zehen, über ihre Knöchel, denen Marco einen Song widmen wollte. Lunau brach die Lektüre ab. Er dankte Frau Clerici und verließ das Haus durch den Hinterausgang. Er kletterte wieder über den Zaun und stand in der feuchten, kalten Nachtluft. Nichts Verdächtiges zu sehen. Lunau kehrte auf die Via Modena zurück und setzte sich in seinen Leihwagen. Er tauchte in den Verkehr der Ausfallstraße ein und steuerte das Stadtzentrum an. Im Rückspiegel sah er mehrmals ein Paar scharf geschnittener Scheinwerfer, sie erinnerten an Katzenaugen. Nach jeder Kurve verschwand der Wagen, um kurz darauf wieder aufzutauchen.
Lunau durchquerte das
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