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Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Titel: Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Arbeit gespielt wurde, solange es kein Pop war, und heute lauschten sie den wohltuenden Ohrwürmern des Klassikprogramms Classic FM.
    Es gab zwei Obduktionssäle, einen mit vier Seziertischen und ein Einzelzimmer. Letzteres bevorzugte Reginald Wardle für Mordfälle, aber da es nur ein kleiner Raum war, kam es unweigerlich zu Rempeleien und Gedrängel, wenn die hier zusammentreffenden Experten für gewaltsamen Tod um einen günstigen Platz kämpften: der Pathologe und seine Assistenten, die beiden Laboranten vom Leichenschauhaus, vier Polizeibeamte, der Verbindungsmann vom Polizeilabor, der Fotograf nebst Assistent, die Beamten von der Spurensicherung und die Fingerabdruckspezialisten sowie ein Praktikant aus der Pathologie, den Dr. Wardle als Dr. Manning, seinen Protokollführer, vorstellte; er hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen das Overhead-Mikrophon. Alle außer Wardle trugen beigefarbene Baumwolloveralls über ihrer Straßenkleidung, in der sie aussahen wie ein Trupp säumiger Möbelpacker; einzig die Plastiküberschuhe deuteten darauf hin, daß sie wohl einen unheimlicheren Dienst zu verrichten hatten. Die Laboranten hatten schon ihre Masken auf, den Mundschutz aber noch hochgeklappt. Nachher, wenn sie die Organe in die Eimer füllten und zum Wiegen brachten, würde auch der geschlossen sein, zum Schutz vor Aids und dem weit häufigeren Risiko einer Hepatitis B. Wardle trug wie gewöhnlich nur seine hellgrüne Schürze über Hose und Hemd. Wie die meisten Gerichtsmediziner nahm er die eigene Sicherheit auf die leichte Schulter.
    Die Leiche lag, in Plastik verpackt und versiegelt, auf der Bahre im Vorraum. Auf Dalgliesh’ Geheiß schlitzten die Pathologie-Assistenten die Plastikhülle auf und ließen sie an den Seiten des Tisches herabfallen. Wie ein Stoßseufzer entwich die Luft, das Plastik knisterte wie elektrisch geladen, und die Leiche wurde vor ihren Augen freigelegt wie, der Inhalt eines riesigen Überraschungsknallbonbons. Die Augen des Toten waren jetzt noch stumpfer; nur die Schlange, die man an seiner Wange festgeklebt hatte und deren Kopf wie ein Knebel in seinem Mund stak, schien noch Leben oder Vitalität zu besitzen. Dalgliesh verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, sie zu entfernen – nur so konnte die Würde des Toten halbwegs wiederhergestellt werden –, und er fragte sich, warum er zuvor darauf bestanden hatte, daß sie bis nach der Leichenöffnung an ihrem Platz bliebe. Nur mit Mühe konnte er den Impuls unterdrücken, jetzt hinzulangen und das groteske Spielzeug wegzureißen. Statt dessen eröffnete er mit der offiziellen Identifikation die amtliche Prozedur.
    »Hiermit erkläre ich an Eides Statt, daß dies der Leichnam ist, den ich erstmals am Freitag, den 15. Oktober, um neun Uhr achtundvierzig in Innocent House, Innocent Walk, Wapping, gesehen habe.«
    Dalgliesh hatte großen Respekt vor Marcus und Len, den beiden Sachverständigen des Instituts, die er sowohl menschlich als auch um ihrer Kompetenz willen schätzte. Es gab Leute, darunter auch eine ganze Reihe von Polizeibeamten, denen es schwerfiel zu glauben, daß jemand freiwillig in einem Leichenschauhaus arbeitete, ohne damit eine exzentrische, wenn nicht gar unheimliche Zwangsneurose zu befriedigen, aber Marcus und Len waren glücklicherweise frei von jenem derben Friedhofshumor, mit dem manche Kollegen in ihrem Gewerbe Entsetzen und Abscheu bekämpften. Die beiden verrichteten ihre Arbeit so sachkundig und tüchtig und dabei mit einer solchen Ruhe und Würde, daß er immer wieder beeindruckt war. Er hatte auch schon gesehen, wie rührend sie sich bemühten, einen Leichnam herzurichten, bevor die Angehörigen ihn zu sehen bekamen. Viele, die vor ihren Augen seziert wurden, waren gewiß Alte oder unheilbar Kranke, also natürliche Todesfälle, die zwar für die Hinterbliebenen auch eine kleine Tragödie bedeuten mochten, einen Fremden aber kaum über Gebühr zu erschüttern brauchten. Wie aber, fragte er sich, verkrafteten sie den Anblick von ermordeten Jugendlichen, Vergewaltigten, den Opfern von Unfällen oder brutaler Gewalt? In einer Zeit, in der angeblich kein Schmerz, nicht einmal der aus ganz natürlichem menschlichen Leid oder Trauer geborene, mehr ohne psychologische Betreuung verarbeitet werden konnte, wer, wenn überhaupt jemand, betreute da Marcus und Len? Wenigstens würden sie nicht der Versuchung erliegen, die Reichen, Berühmten und Umschwärmten zu vergöttern – hier im Leichenschauhaus herrschte

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