Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Kate, »müßten dann nicht Blutspuren auf dem Stoff sein? Wieviel Blut wäre wohl nach dem Tod noch ausgetreten?«
»Sie meinen unmittelbar danach?« fragte Doc Wardle zurück. »Nicht viel. Aber er war mit Sicherheit nicht mehr am Leben, als dieser Kratzer entstand.«
Gemeinsam starrten sie angestrengt auf den Kopf der Schlange. »Mit diesem Ding ist in Innocent House fast fünf Jahre herumgespielt worden«, sagte Dalgliesh. »Es ist leichter, sich einen Fleck einzubilden, als ihn tatsächlich zu sehen. Eine mit bloßem Auge erkennbare Blutspur ist jedenfalls nicht da, aber vielleicht findet ja das Labor noch was. Wenn die Schlange unmittelbar gegen besagtes scharfkantige Objekt ausgetauscht wurde, dann müßten auch Spuren dasein.«
»Können Sie uns irgendeinen Hinweis auf dieses rätselhafte Ding geben, Doc?« fragte Daniel.
»Na ja, bis auf die eine Schramme sind keine anderen Verletzungen in der Mundhöhle oder an der Rückwand der Zähne zu entdecken, was auf ein relativ kleines Objekt schließen läßt. Nur, warum einer, der kurz vorm Abkratzen ist, sich überhaupt noch irgendwas in den Mund stopft, ist mir wirklich schleierhaft. Aber das ist ja zum Glück auch euer Ressort.«
»Wenn es etwas war, das er verstecken wollte«, überlegte Daniel laut, »warum hat er es dann nicht einfach in die Hosentasche geschoben? Mit dem Ding im Mund verurteilte er sich doch gleichzeitig zum Schweigen. Oder jedenfalls hätte er kaum normal sprechen können, wenn ihm etwas zwischen Zunge und Gaumen klemmte, selbst wenn es noch so klein gewesen wäre. Aber nehmen wir mal an, er hat gewußt, daß er sterben mußte. Angenommen, er war in diesem kleinen Kabuff gefangen, wo das Gas ausströmte, der Gashahn abgeschraubt war und das Fenster sich nicht öffnen ließ…«
»Aber dieses ominöse Ding«, fiel Kate ihm ins Wort, »das hätte man später doch auch dann bei der Leiche gefunden, wenn er es einfach bloß in die Tasche gesteckt hätte.«
»Es sei denn, der Mörder hätte davon gewußt und wäre zurückgekommen, um es zu holen. Dann ergibt es einen Sinn, daß er es im Mund versteckt hat. Und selbst wenn der Mörder gar keine Ahnung gehabt hätte, daß dieser Gegenstand existierte, sorgte Etienne auf diese Weise dafür, daß er spätestens bei der Obduktion gefunden wurde.«
»Aber er hat ja Bescheid gewußt«, sagte Kate. »Ich meine den Mörder. Er ist extra deswegen noch einmal zurückgekommen, und ich denke, er hat gefunden, was er suchte. Ich stelle es mir so vor: Er stemmte dem Toten mit Gewalt den Kiefer auf, um das verräterische Ding herauszuholen. Und dann hat er mit Hilfe der Schlange den Verdacht auf den im Verlag ja schon lange gesuchten Possenreißer gelenkt.«
Sie und Daniel waren so aufeinander konzentriert, als wären sie allein im Raum. »Aber konnte der Täter denn wirklich annehmen, daß wir die Schramme nicht finden würden?« wandte Daniel ein.
»Ach, Daniel, nun verrennen Sie sich aber nicht! Der Täter hat die Verletzung wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Er hat allerdings gewußt, daß er die Leichenstarre brechen muß und daß uns das nicht verborgen bleiben würde. Darum die Schlange. Und wenn die Schramme nicht gewesen wäre, dann hätte er uns damit ja auch hinters Licht geführt. Wir suchen also nach einem Mörder, der etwas von Leichenstarre versteht und der damit rechnete, daß der Tote relativ bald gefunden werden würde. Denn wenn die Leiche beispielsweise noch einen Tag unentdeckt geblieben wäre, hätte er sich den Trick mit der Schlange ja sparen können.«
Sie liefen Gefahr, sich in Theorien zu verzetteln, noch bevor alle Fakten auf dem Tisch lagen. Dalgliesh hatte das vorausgesehen. Die Obduktion war noch nicht beendet, die Todesursache noch nicht zweifelsfrei bestätigt, aber er war sich des Befundes einigermaßen sicher, und er wußte, daß Doc Wardle seine Meinung teilte.
»Nach was für einem Gegenstand suchen wir eigentlich? Was Kleines mit scharfen Kanten? Ein Schlüssel vielleicht? Ein Schlüsselbund? Eine kleine Metalldose?«
»Oder wie wär’s mit der Kassette aus einem Diktiergerät?« schlug Dalgliesh ruhig vor.
Dalgliesh mußte aufbrechen, bevor die Obduktion abgeschlossen war. Doc Wardle erklärte eben seinem Assistenten, daß und warum die Blutproben fürs Labor aus der Vene im Oberschenkel entnommen werden mußten und nicht vom Herzen. Dalgliesh bezweifelte, daß die Autopsie jetzt noch weitere Aufschlüsse bringen würde, und falls doch, dann würde er das
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