Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
früh genug erfahren. Er mußte vor dem Treffen im Unterhaus noch ein paar Papiere durchsehen, und die Zeit wurde langsam knapp. Es wäre sinnlos gewesen, auf dem Heimweg eigens noch einmal beim Yard vorbeizufahren, und darum hatte William, sein Chauffeur, ihm die Aktenmappe aus dem Büro geholt. Jetzt wartete William bereits eine ganze Weile im Vorhof, und sein liebenswürdiges, pausbäckiges Gesicht verriet, trotz aller antrainierten Beherrschung, Sorge um den Terminplan des Chefs.
Der heftige Regen vom Nachmittag war einem feinen Dauernieseln gewichen, und Dalgliesh schnupperte bei halboffenem Fenster den Salzgeruch der Themse. Die Ampeln am Embankment warfen verschwommene, knallrote Flecken in den Abendhimmel, und an der Kreuzung stampfte ein Polizeipferd mit zierlichen Hufen den naßglänzenden Asphalt. Die Dunkelheit war mit großen Schritten über die Stadt gekommen, doch die setzte sich mit einer wahren Lichtorgie dagegen zur Wehr und verwandelte Straßen und Plätze in schimmernde, leise schwankende Glitzerketten, die abwechselnd weiß und rot und grün schillerten. Dalgliesh holte seine Aufzeichnungen aus der Aktenmappe und überflog rasch noch einmal die Hauptpunkte seiner Argumentation. Höchste Zeit, sein Gehirn auf ein unmittelbares – und am Ende vielleicht sogar wichtigeres –Anliegen umzustellen. Normalerweise fiel ihm das nicht schwer, aber jetzt wollten die Bilder aus dem Leichenschauhaus sich nicht verdrängen lassen.
Etwas Kleines, Scharfkantiges war mit Gewalt aus Etiennes Mund gerissen worden, nachdem die Leichenstarre sich bereits in der oberen Körperhälfte ausgebreitet hatte. Dieser Gegenstand konnte eine Kassette sein; das Verschwinden des Recorders aus dem kleinen Archiv legte die Möglichkeit zumindest nahe. Die Schlußfolgerung daraus wäre, daß Etienne den Namen seines Mörders auf Band gesprochen hatte und daß dieser später an den Tatort zurückgekehrt war, um das belastende Material zu vernichten. Allein, Dalgliesh’ Verstand wehrte sich gegen eine so simple Hypothese. Etiennes Mörder hatte mit peinlicher Sorgfalt alles aus dem Raum entfernt, was seinem Opfer die Möglichkeit gegeben hätte, eine Botschaft zu hinterlassen. Fußboden und Kaminsims waren gesäubert und alle Papiere entfernt worden, ja sogar Etiennes Terminkalender mit dem goldenen Kugelschreiber hatte man tags zuvor gestohlen. Selbst daran hatte der Mörder gedacht. Etienne hatte nicht einmal die Chance gehabt, den Namen des Täters auf die blanken Dielen zu kritzeln. Warum hätte der Mörder da andererseits so dumm sein sollen, seinem Opfer einen Kassettenrecorder bereitzustellen?
Es gab natürlich noch eine andere Erklärung. Der Täter, der sonst so penibel aufgeräumt hatte, könnte den Recorder absichtlich stehengelassen haben, und wenn dem so war, dann versprach der Fall noch sehr viel rätselhafter und faszinierender zu werden, als es ursprünglich den Anschein gehabt hatte.
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Es war nach halb elf, als Dalgliesh in die Einsatzzentrale Wapping zurückkehrte, und Robbins hatte längst Feierabend. Kate und Daniel hatten sich auf dem Rückweg vom Leichenschauhaus Sandwiches gekauft und damit, nebst einigen Tassen Kaffee, den langen Abend überbrückt. Sie hatten bereits einen Zwölf-Stunden-Tag hinter sich, aber ihr Dienst war noch nicht zu Ende. Dalgliesh würde eine Analyse der bisher erzielten Ergebnisse erwarten und eine klare Strategie, bevor sie in die nächste Untersuchungsphase eintraten.
Dalgliesh beschäftigte sich zehn Minuten mit den Papieren, die Daniel aus Gerard Etiennes Arbeitszimmer mitgebracht hatte, schloß die Akte dann kommentarlos und sagte mit einem Blick auf seine Uhr: »Schön, und welche Schlüsse zieht ihr vorläufig aus den uns bisher bekannten Fakten?«
Daniel ergriff hastig als erster das Wort, genau wie Kate es erwartet hatte. Ihr machte das nichts aus. Sie waren rangmäßig gleichgestellt, aber sie hatte ein höheres Dienstalter, was herauszustreichen ihr jedoch nicht nötig schien. Natürlich hatte es einen Vorteil, als erster zu referieren; so verhinderte man, daß andere das Lob für die eigenen Ideen einstrichen, und zeigte obendrein Einsatzeifer. Andererseits war es auch ganz sinnvoll, den rechten Zeitpunkt abzupassen. Daniel trug seinen Sermon sehr wirkungsvoll vor; wahrscheinlich, dachte sie, hat er ihn seit unserer Rückkehr aus dem Leichenschauhaus heimlich geprobt.
Zunächst rekapitulierte er: »Natürlicher Tod, Selbstmord, Unfall oder Mord? Die ersten
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