Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
für circa halb acht gebraucht wird? Oder war das nur gut geraten?«
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Dalgliesh’ Termin bei Jean-Philippe Etienne, den Claudia Etienne vermittelt hatte, war auf zehn Uhr dreißig angesetzt, was einen angenehm frühen Start in London erforderlich machte. Für einen Mann, der frei über seinen Tag verfügen konnte, war Etiennes Zeitangabe erstaunlich präzise gewesen. Dalgliesh überlegte, ob sie womöglich so gewählt war, daß Etienne, selbst wenn das Gespräch sich länger hinzöge als erwartet, nicht genötigt wäre, ihn zum Mittagessen einzuladen. Auch das war ihm recht. Allein in einem fremden Ort zu speisen, wo ihn kein Mensch behelligte, weil niemand ihn erkannte, in einem Restaurant, wo er sicher sein durfte, daß kein Anruf ihn erreichen würde, das war selbst dann ein Vergnügen, wenn die Küche nicht viel zu bieten hatte, und er war fest entschlossen, die seltene Gelegenheit nach dem Verhör zu nutzen. Nachmittags um vier hatte er eine Sitzung im Yard, von wo er direkt weiterfahren würde nach Wapping, um Kates Bericht entgegenzunehmen. Es blieb ihm also keine Zeit für einen einsamen Spaziergang oder die Besichtigung einer alten Kirche am Wegrand. Aber essen, sagte er sich, essen muß jeder Mensch.
Es war noch dunkel, als er losfuhr, erst allmählich dämmerte ein trockener, aber trüber Morgen herauf. Doch kaum daß er die letzten östlichen Vororte hinter sich gelassen hatte und in die eintönige Landschaft von Essex mit ihren stumpfen Farben kam, lichtete sich der graue Himmel zu einem durchsichtig weißen Dunstschleier, hinter dem später vielleicht auch noch die Sonne hervorkommen mochte. Jenseits der gestutzten Hecken mit den vereinzelten, windzerzausten Bäumen erstreckten sich die abgeernteten Herbstfelder, aus denen hie und da schon die ersten grünen Hähnchen der Wintersaat spitzten, bis zum Horizont. Dalgliesh fühlte sich seltsam frei unter dem weiten Himmel von East Anglia, als ob das Gewicht einer altvertrauten Last vorübergehend von ihm genommen wäre.
Er dachte an den Mann, den er treffen sollte. Zwar kam er mit nur sehr geringen Erwartungen nach Othona House, aber ganz unvorbereitet war er nicht. Für detaillierte Recherchen über Etiennes Vergangenheit war natürlich keine Zeit gewesen, doch er hatte etwa eine Dreiviertelstunde in der London Library, der bekanntesten Leihbibliothek Englands, verbracht und außerdem mit einem ehemaligen Mitglied der Résistance in Paris telefoniert, dessen Namen er einem Kontaktmann in der französischen Botschaft verdankte. Und so wußte er jetzt immerhin einiges über Jean-Philippe Etienne, den Helden der Résistance im Vichy-Frankreich.
Etiennes Vater hatte in Clermont-Ferrand eine gutgehende Zeitung nebst Druckerei besessen und war eines der ersten und aktivsten Mitglieder der Organisation de Résistance de l’Armée gewesen. Als er 1941 an Krebs starb, erbte sein einziger Sohn, der gerade jung verheiratet war, den Betrieb und übernahm auch die Rolle des Vaters im Kampf gegen das Vichy-Regime und die deutschen Besatzer. Wie sein Vater war auch er ein glühender Gaullist und überzeugter Antikommunist. Er mißtraute der Front National, die von den Kommunisten gegründet war, und daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, daß viele seiner Freunde – ob Christen, Sozialisten oder Intellektuelle – Mitglieder der Front waren. Aber er war von Natur aus ein Einzelgänger und arbeitete am liebsten allein mit seiner kleinen, im geheimen rekrutierten Truppe. Ohne daß es zum offenen Streit mit den großen Organisationen gekommen wäre, hatte Etienne sich mehr und mehr distanziert und stärker der Propaganda als dem bewaffneten Kampf verschrieben, hatte seine eigene Untergrundzeitung und Flugblätter verteilt, die die Alliierten aus der Luft abwarfen, hatte London regelmäßig mit – allerdings wertlosen – Informationen versorgt und sogar versucht, deutsche Soldaten zu beeinflussen und zu demoralisieren, indem er Propagandamaterial in ihre Stellungen einschleuste. Die Stammzeitung wurde weitergeführt, war jedoch inzwischen weniger Nachrichtenorgan als Literaturzeitschrift, und ihrem vorsichtig taktierenden, unpolitischen Kurs hatte Etienne es zu verdanken, daß er, trotz strenger Rationierungsmaßnahmen, mehr Papier und Druckerschwärze bewilligt bekam, als ihm zustand. Und mit Sparsamkeit und List gelang es ihm, immer wieder Vorräte für seine Untergrundpresse abzuzweigen.
Vier Jahre lang hatte er sein Doppelleben so erfolgreich
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