Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
geregnet, und Gerard meinte, das Haus seines Vaters sei auch bei trockener Witterung schon düster genug, und wir würden lieber ein andermal fahren. Also sind wir am Nachmittag statt dessen in den Sainsbury-Flügel der National Gallery gegangen, weil Gerard sich unbedingt noch mal das Wilton-Diptychon ansehen wollte, und anschließend waren wir im Ritz zum Tee. Abends haben wir uns nicht gesehen, weil Mama darauf bestand, daß ich mit ihr nach Wiltshire rausfuhr, wo wir den Rest des Wochenendes mit meinem Bruder verbrachten. Sie wollte den Ehevertrag en famille durchsprechen, bevor wir die Anwälte konsultierten.«
»Und wie ging es Mr. Etienne, als Sie ihn am Samstag trafen, abgesehen von seiner Depression wegen des Wetters?«
»Er war nicht deprimiert deswegen. Mit dem Besuch bei seinem Vater hatte es ja keine Eile. Nein, nein, Gerard ließ sich von Dingen, die er nicht ändern konnte, nicht deprimieren.«
»Und die, die er ändern konnte«, fiel Daniel ein, »die hat er geändert?«
Sie wandte sich ihm zu, und plötzlich lächelte sie. »Stimmt genau.« Und nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Das war also unser letztes Zusammentreffen, aber es war nicht das letztemal, daß ich ihn gesprochen habe. Wir haben Donnerstag abend noch mal miteinander telefoniert.«
Kates Stimme klang mühsam beherrscht. »Sie haben vor zwei Tagen mit ihm gesprochen, am Abend seines Todes?«
»Ich weiß nicht, wann er gestorben ist. Man hat ihn gestern morgen tot aufgefunden, oder? Nun, ich habe am Abend zuvor über seinen Privatanschluß mit ihm telefoniert.«
»Um welche Zeit, Lady Lucinda?«
»Das war, glaube ich, so zwanzig nach sieben. Könnte auch ein bißchen später gewesen sein, aber es war bestimmt noch vor halb acht, denn Mama und ich mußten um sieben Uhr dreißig aus dem Haus, weil wir mit meiner Großmutter zum Abendessen verabredet waren, und ich war schon umgezogen. Ich dachte, ich hätte gerade noch Zeit, rasch bei Gerard anzurufen. Ich brauchte einen Vorwand, um das Gespräch ganz kurz zu halten. Darum bin ich mir mit der Zeit so sicher.«
»Worüber wollten Sie denn mit ihm sprechen? Sie hatten Ihre Verlobung doch bereits schriftlich gelöst.«
»Ich weiß, aber ich dachte, er hätte den Brief morgens schon bekommen. Und ich wollte ihn fragen, ob er genau wie Mama der Meinung sei, daß wir eine kleine Meldung in die Times setzen lassen müßten, oder ob es ihm lieber wäre, wir würden an unsere persönlichen Freunde schreiben und ansonsten warten, bis es sich von allein herumspricht. Mama verlangt jetzt natürlich, daß ich den Brief an Gerard zerreiße und kein Sterbenswörtchen sage. Aber das werde ich nicht tun. Geht ja jetzt auch nicht mehr, wo Sie den Brief gesehen haben. Aber sie braucht sich immerhin keine Gedanken mehr wegen der Annonce in der Times zu machen. Da hat sie wieder ein paar Pfund gespart.«
Der giftige kleine Nadelstich kam so plötzlich und wurde so rasch mit einem betörenden Lächeln überspielt, daß Daniel fast hätte glauben können, er habe sich verhört. Kate ging darüber hinweg, als wäre nichts gewesen. »Und was hat er nun gesagt? Zu der Annonce, zu der geplatzten Verlobung? Sie haben ihn doch sicher gefragt, ob er den Brief bekommen hat?«
»Ich hab’ ihn gar nichts gefragt. Wir haben eigentlich überhaupt nicht miteinander gesprochen. Er sagte gleich, er könne jetzt nicht reden, weil er Besuch habe.«
»Sind Sie da ganz sicher?«
Die glockenhelle Stimme war fast ausdruckslos. »Ich bin mir nicht sicher, daß er Besuch hatte. Wie könnte ich auch? Ich hab’ niemanden gehört und auch mit keinem anderen gesprochen als mit Gerard. Vielleicht war das nur ein Vorwand, um nicht mit mir reden zu müssen, aber ich bin mir absolut sicher, daß er mir gegenüber behauptet hat, er hätte Besuch.«
»Und zwar exakt mit diesen Worten? Das muß ich bitte ganz genau wissen, Lady Lucinda. Er hat nicht gesagt, er sei nicht allein oder es sei jemand bei ihm? Er benutzte das Wort ›Besuch‹?«
»Aber ja doch. Er hat gesagt, er hat Besuch.«
»Und das war zwischen, na, sagen wir sieben Uhr zwanzig und sieben Uhr dreißig?«
»Eher gegen sieben Uhr dreißig. Der Wagen hat Mama und mich Punkt halb acht abgeholt.«
Gerard hatte Besuch gehabt. Daniel mußte sich ordentlich zusammennehmen, um Kate nicht anzusehen, aber er wußte auch so, daß ihre Gedanken in die gleiche Richtung gingen. Wenn Etienne tatsächlich dieses Wort gebraucht hatte – und die junge Frau schien sich da
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