Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
ganz sicher zu sein –, dann durfte man daraus schließen, daß Etienne mit jemandem zusammengewesen war, der nicht zum Verlag gehörte. Denn einen der Gesellschafter oder einen Angestellten hätte er wohl kaum als »Besuch« bezeichnet. Da wäre es doch viel naheliegender gewesen – zu sagen: »Ich bin sehr beschäftigt« oder »in einer Besprechung« oder »Ich habe mit einem Kollegen zu tun«. Wenn ihn aber an dem Abend ein Außenstehender besucht hatte, ob angemeldet oder nicht, dann war der- oder diejenige bisher jedenfalls noch nicht in Erscheinung getreten. Stellte sich die Frage, warum nicht, wenn der Besuch harmlos gewesen war und wenn er oder sie Etienne lebend und munter verlassen hatte? In Etiennes Büroterminkalender war für den Abend kein Eintrag verzeichnet, aber das besagte natürlich nicht viel. Der Besucher hätte ihn untertags oder am frühen Abend leicht über seine Privatleitung anrufen können, oder aber er war ungebeten und unerwartet gekommen. Doch das waren natürlich wieder nur Indizien, wie so vieles in diesem immer rätselhafter werdenden Fall.
Kate bohrte inzwischen weiter und fragte Lady Lucinda gerade, wann sie das letztemal in Innocent House gewesen sei.
»Da war ich seit der Party am 10. Juli nicht mehr. Das war damals halb ein Geburtstagsfest – ich bin zwanzig geworden – und halb Verlobungsfeier.«
»Ja, ja«, sagte Kate, »wir haben die Gästeliste. Ich nehme an, die Leute durften sich an dem Abend je nach Lust und Laune frei im Haus bewegen?«
»Ein paar haben das, glaube ich, gemacht. Sie wissen ja, wie Pärchen auf Partys sind, die seilen sich immer gern ab. Ich glaube nicht, daß irgendwo abgeschlossen war, aber Gerard sagte, man habe den Angestellten eingeschärft, alle Papiere sorgfältig wegzuräumen.«
»Sie haben nicht zufällig gesehen, wie jemand ganz oben rauf zu den Archivräumen ging?«
»Doch, stellen Sie sich vor, das hab’ ich. Es war ganz witzig. Ich mußte nämlich mal, aber die Damentoilette in der ersten Etage war besetzt, und da fiel mir ein, daß im obersten Stockwerk noch so ein kleines Klo ist. Also bin ich die Treppe rauf. Und da kommen mir von oben zwei entgegen. Aber die paßten nun wirklich überhaupt nicht zusammen. Sahen allerdings richtig schuldbewußt aus. Es war fast ein bißchen unheimlich.«
»Und wer waren diese Leute, Lady Lucinda?«
»George, der alte Mann von der Rezeption, wissen Sie, und diese mausgraue kleine Frau, die den Buchhalter geheiratet hat, ich vergesse ständig seinen Namen. Sydney Bernard oder so ähnlich. Dabei müßte ich’s eigentlich wissen. Gerard hatte mich der ganzen Belegschaft samt Ehefrauen vorgestellt. Es war grauenhaft langweilig.«
»Sie meinen Sydney Bartrum?«
»Ganz richtig, ja, dessen Frau war’s. Sie hatte ein ganz und gar ausgefallenes Kleid an: himmelblauer Taft mit rosa Schärpe.« Und an Claudia Etienne gewandt fuhr sie fort: »Daran erinnerst du dich doch bestimmt auch noch, Claudia, oder? Ein ganz weiter Rock mit rosa Tüllbesatz und dazu Puffärmel. Zum Davonlaufen!«
Claudia sagte schroff: »Ja, ich erinnere mich.«
»Und haben die beiden Ihnen vielleicht gesagt, was sie dort oben wollten?«
»Na, vermutlich das gleiche wie ich. Ja, die Frau hat auch irgendwas von dringend zur Toilette müssen gemurmelt. Ist ganz rot geworden, die Ärmste. Beide waren schrecklich verlegen – überhaupt sahen sie sich erstaunlich ähnlich, das gleiche runde Gesicht, die gleiche Schamröte. George hat geguckt, als hätte ich ihn mit den Fingern in der Portokasse erwischt. Aber es war doch komisch, nicht? Ich meine, wie die zwei zusammenkamen. George war natürlich nicht als Gast da. Er sollte bloß den Herren mit der Garderobe behilflich sein und ungeladene Gäste abwimmeln. Und wenn Mrs. Bartrum das Klo nicht finden konnte, warum hat sie dann nicht Claudia oder eine von den Sekretärinnen gefragt?«
»Haben Sie das nachher jemandem erzählt?« fragte Kate. »Zum Beispiel Mr. Etienne?«
»Nein, so wichtig fand ich’s auch wieder nicht, nur merkwürdig halt. Ich hatte es auch schon fast wieder vergessen. Hören Sie, wollen Sie sonst noch was wissen? Ich denke, ich war jetzt wirklich lange genug hier. Wenn Sie mich noch einmal zu sprechen wünschen, dann wenden Sie sich besser schriftlich an mich, und ich werde versuchen, Ihnen einen Termin zu geben.«
»Wir bräuchten eine protokollierte Aussage von Ihnen, Lady Lucinda. Es wäre schön, wenn Sie, sobald Sie’s einrichten können, auf dem Revier
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