Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
sich nicht gleich an den Polizeipräsidenten gewandt hat, oder meinetwegen auch an mich.«
»Wirklich? Ich finde das gar nicht so erstaunlich. Es hätte doch ein bißchen – na, sagen wir hasenfüßig ausgesehen, eine Spur überängstlich, nicht? Außerdem kennt er Sie nicht, ich dagegen schon. Ich verstehe durchaus, warum er zuerst bei mir vorgefühlt hat. Und natürlich ist es kaum denkbar, daß ein Lord Stilgoe aufs nächste Revier geht, sich einreiht in die Schlange von Hundebesitzern, denen ihr Köter entlaufen ist, von mißhandelten Ehefrauen und Autofahrern, die eine Panne haben, und daß er brav wartet, bis er drankommt, und dem Sergeant vom Dienst sein Malheur erklären darf. Ehrlich gesagt, fürchte ich, er hatte Bedenken, daß man ihn nicht ernst nehmen würde. Trotzdem hat nach seiner Auffassung die Polizei mit Rücksicht auf die Ängste seiner Frau und diesen anonymen Wisch allen Grund, Peverell Press mal unter die Lupe zu nehmen.«
Das Lamm war aufgetragen worden, ein Braten, so rosig, zart und saftig, daß man ihn fast hätte mit dem Löffel essen können. In den wenigen Minuten des Schweigens, die Ackroyd einem vollendet gelungenen Mahl als Ehrentribut zu zollen gewillt war, rief Dalgliesh sich seine früheste Erinnerung an Innocent House ins Gedächtnis.
Sein Vater war zur Feier seines achten Geburtstags mit ihm nach London gefahren. Zwei volle Tage wollten sie die Sehenswürdigkeiten der Stadt erkunden; übernachten würden sie bei einem Freund, der in Kensington eine Pfarrstelle hatte, und dessen Frau. Dalgliesh konnte sich noch erinnern, wie unruhig er die Nacht zuvor geschlafen und sich fast krank vor Aufregung im Bett gewälzt hatte; er entsann sich wieder der riesigen, gähnenden Weite und des Lärms in der alten Liverpool Street Station, der entsetzlichen Angst davor, den Vater zu verlieren, mitgerissen zu werden von der großen Armee graugesichtiger, zielstrebig dahinmarschierender Menschen. In den zwei Tagen, in denen sein Vater Vergnügen mit Bildung zu verknüpfen trachtete – für seinen Gelehrtenverstand gehörten die beiden ohnehin untrennbar zusammen –, hatten sie sich vielleicht zwangsläufig zuviel vorgenommen. Jedenfalls war für den Achtjährigen dieser London-Besuch einfach überwältigend gewesen, und zurück blieben verschwommene Erinnerungen an Kirchen und Museen, Restaurants mit fremdartigen Speisen, in Flutlicht getauchte Türme und den tanzenden Widerschein des Lichts auf der schwarzen, gekräuselten Wasseroberfläche der Themse, an stolz tänzelnde Pferde und die Silberhelme der Reiter, an den Glanz und Schrecken der Geschichte, wie sie sich in Stein gemeißelt präsentiert. Allein, London hatte ihn in Bann geschlagen, und kein späteres Erlebnis als Erwachsener, kein Streifzug durch andere prachtvolle Großstädte vermochte diesen Zauber mehr zu brechen.
Am zweiten Tag hatten sie St. Paul’s Cathedral besichtigt und waren danach mit einem Flußdampfer vom Charing Cross Pier nach Greenwich gefahren. Bei diesem Ausflug hatte Dalgliesh Innocent House zum erstenmal gesehen. Wie eine goldene Fata Morgana schien es sich im gleißenden Licht der Morgensonne aus den glitzernden Fluten zu erheben, und er hatte es ganz ergriffen angestaunt. Sein Vater hatte ihm erklärt, daß der Name der Villa vom Innocent Walk, dem Steg der Unschuld, hergeleitet sei, der hinter dem Haus verlief und an dessen Ende zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ein Schiedsgericht seinen Sitz hatte. Angeklagte, die nach der ersten Vernehmung inhaftiert wurden, kamen ins Fleet-Gefängnis; diejenigen aber, die mehr Glück hatten, spazierten über eben diesen kopfsteingepflasterten Weg in die Freiheit. Dalgliesh hatte eben angefangen, seinem Sohn etwas über die Baugeschichte des Hauses zu erzählen, als seine Stimme vom dröhnenden Organ ihres Reiseleiters übertönt wurde, der so laut brüllte, daß bestimmt alle anderen Bootsgesellschaften auf dem Fluß mithören konnten.
»Und hier gleich links, meine Damen und Herren, sehen wir eines der interessantesten Gebäude an der Themse: Innocent House, 1830 erbaut von Sir Francis Peverell, einem bekannten Verleger seiner Zeit. Sir Francis war in Venedig gewesen, wo ihm die Ca’ d’Oro, das ›Goldene Haus‹ am Canal Grande, besonderen Eindruck machte. Wer von Ihnen schon einmal in Venedig war, erinnert sich bestimmt. Sir Francis jedenfalls kam auf den Gedanken, sich sein eigenes ›Goldenes Haus‹ an die Themse zu bauen. Bloß schade, daß er das
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