Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
venezianische Klima nicht importieren konnte.« Er machte eine kleine Pause, um die erwarteten Lacher einzuheimsen. »Heute befindet sich hier der Sitz einer Verlagsgesellschaft, Peverell Press, nach wie vor ein Familienunternehmen. Mit Innocent House, meine Damen und Herren, verbindet sich auch eine spannende Geschichte. Besagter Sir Francis war dermaßen in seinen Palast vernarrt, daß er darüber seine junge Frau ganz vernachlässigte, und das, obwohl er das Haus zum Teil mit ihrem Geld erbaut hatte. Die arme Frau stürzte sich schließlich vor lauter Gram vom höchsten Balkon. Sie war auf der Stelle tot. Dem Volksmund nach ist bis heute ein Blutfleck auf der Marmorterrasse zu sehen, der sich einfach nicht entfernen läßt. Und weiter heißt es, Sir Francis habe auf seine alten Tage vor lauter Gewissensbissen den Verstand verloren und sei jede Nacht hinausgeschlichen, um den verräterischen Fleck fortzuwischen. Angeblich sieht man noch heute zuweilen seinen Geist an dem Blut herumschrubben, und es gibt Fährleute, die nach Einbruch der Dunkelheit nicht gern zu nahe an Innocent House vorbeifahren.«
Bis jetzt waren alle Augen an Deck folgsam auf das Haus gerichtet gewesen, aber nun drängten sich die Passagiere, fasziniert von dieser blutrünstigen Geschichte, an der Reling zusammen; man tuschelte aufgeregt, und Köpfe reckten sich, als ob der sagenumwobene Fleck tatsächlich sichtbar wäre. Die übersteigerte Phantasie des achtjährigen Adam hatte ihm gar eine weißgekleidete Frau vorgegaukelt, die sich mit wehendem Blondhaar vom Balkon stürzte wie eine wahnsinnige Märchenheldin. Er hatte den dumpfen Aufprall gehört und nachgerade gesehen, wie das dünne Blutrinnsal sich sammelte, langsam über den Marmor floß und schließlich in der Themse versickerte. Noch Jahre später war ihm das Haus kraft seiner Geschichte, einem bewährten Gebräu aus Schönheit und Schrecken, ein schillernder Quell der Phantasie.
In einem Punkt freilich hatte sich der Reiseleiter geirrt, und auch die Selbstmordgeschichte war möglicherweise aufgebauscht oder vielleicht sogar erfunden. Adam wußte inzwischen, daß Sir Francis sein Herz nicht an die Ca’ d’Oro verloren hatte, die ihm trotz ihres schönen Maßwerks und der filigranen Steinreliefs zu asymmetrisch erschien (so jedenfalls hatte Peverell sich in einem Brief an seinen Architekten geäußert). Er begeisterte sich vielmehr für den Palast des Dogen Francesco Foscari, und eine zweite Ca’ Foscari war es denn auch, die sein Architekt auf sein Geheiß an diesem unwirtlichen, dem Wechsel der Gezeiten unterworfenen Fluß errichtete. Eigentlich hätte er wie ein Kuckucksei wirken müssen, dieser exzentrische Prachtbau, der unverkennbar venezianischen Ursprungs war und obendrein der italienischen Renaissance angehörte. Statt dessen aber fügte er sich wunderbar in seine Umgebung ein, ja, man hätte ihn sich in keiner anderen Stadt und an keinem anderen Platz mehr vorstellen können. Dalgliesh hatte immer noch Mühe zu begreifen, wie diese dreiste Anleihe an eine andere Epoche, ein anderes Land und ein milderes, wärmeres Klima gelingen konnte. Der Architekt hatte den Maßstab verändert, und das allein hätte Sir Francis’ Traum als Anmaßung entlarven müssen, aber die Verkleinerung war hervorragend gelungen, ohne die Würde des Originals im mindesten zu schmälern. Hinter dem erlesenen Rankenwerk der Balkone im ersten und zweiten Stock befanden sich hier nur noch sechs große Fensterbögen anstelle der ursprünglichen acht, aber die Marmorsäulen mit ihren rankenverzierten Kapitellen glichen denen des venezianischen Palastes aufs Haar, und der vorgelagerte Portikus wurde hier wie dort von hohen, schmalen Fenstern kontrapunktiert, was der Fassade ihre ausgewogene Anmut verlieh. Die mächtige, gewölbte Tür ging auf eine Marmorterrasse hinaus, von der ein Landungssteg und eine Treppe zum Fluß hinunterführten. Flankiert wurde das Hauptgebäude von zwei Backsteintrakten im Regency-Stil mit kleinen Balkonen, die vermutlich als Quartier für die Kutscher und andere Bedienstete errichtet worden waren und sich wie bescheidene Wachposten neben dem zentralen Prachtbau duckten. Dalgliesh hatte Innocent House seit jenem achten Geburtstag noch oft vom Fluß aus gesehen, war aber nie drinnen gewesen. Ihm fiel ein, daß er von einem sehr schönen Deckengemälde, einem Matthew Cotes Wyatt, im großen Saal gelesen hatte, das er wirklich gern einmal sehen würde. Er fand, es wäre ein
Weitere Kostenlose Bücher