Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
geringsten Beweis dafür, daß irgend etwas, das Gerard getan oder gesagt hat, schuld sein könnte an Sonias Tod. Du weißt doch, was in ihrem Abschiedsbrief steht. Wenn sie sich hätte umbringen wollen, weil Gerard sie entlassen hat, dann hätte sie das, denke ich, auch geschrieben. Ihr Brief war unmißverständlich. Außerhalb dieser vier Wände darfst du so was nie wieder sagen, hörst du! Derlei Verdächtigungen können großen Schaden anrichten. Versprich mir, vorsichtig zu sein – mit so was ist nicht zu spaßen.«
»Schon gut, versprochen. Außer dir hab’ ich ohnehin zu niemandem darüber geredet, aber ich bin nicht die einzige in Innocent House, die so denkt, und manche sprechen’s auch unverhohlen aus. Als ich heute in dieser gräßlichen Kapelle kniete, habe ich versucht zu beten, für Daddy, für sie, für uns alle. Aber es ergab so gar keinen Sinn. Und ich mußte immerzu an Gerard denken, der neben uns in der ersten Bank hätte sitzen sollen, Gerard, der mein Geliebter war, Gerard, der nun nicht mehr mein Geliebter ist. Es ist alles so demütigend. Heute ist mir natürlich klar, wie es zu der Affäre kam. Gerard hat sich gedacht: ›Arme Frances, schon neunundzwanzig und immer noch Jungfrau. Da muß ich doch was tun. Ich werde ihr das große Erlebnis verschaffen, ihr zeigen, was sie versäumt hat.‹ Jeden Tag eine gute Tat – das heißt, in dem Fall waren’s eher drei Monate, womit ich wahrscheinlich länger im Rennen war als die meisten seiner Gespielinnen. Nur das Ende war so schmutzig, so ekelhaft. Aber das ist wohl immer so. Gerard versteht sich sehr gut darauf, eine Affäre in Gang zu bringen, doch sie mit Anstand beenden, das kann er nicht. Ich freilich genausowenig. Und ich hab’ mir wirklich eingebildet, daß er in mir was anderes sieht als in seinen üblichen Weibergeschichten, ich dachte: Diesmal meint er es ernst, ist verliebt, wünscht sich eine feste Bindung, will heiraten. Ich träumte davon, daß wir Peverell Press gemeinsam leiten und zusammen in Innocent House wohnen würden, stellte mir vor, wie wir hier unsere Kinder großziehen, ja sogar den Verlagsnamen ändern könnten. Ich dachte, das würde ihm gefallen: Peverell und Etienne. Etienne und Peverell. Ich habe es hin und her probiert, um rauszufinden, wie’s besser klingt. Ich bildete mir ein, er habe die gleichen Wünsche wie ich: eine Ehe, Kinder, ein richtiges Zuhause, ein Leben zu zweit. Ist denn das wirklich zuviel verlangt? Ach Gott, Gabriel, ich komme mir ja so dumm vor! Und ich schäme mich entsetzlich.«
Noch nie war sie ihm gegenüber so offen gewesen, hatte ihm so unverhohlen das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung gestanden. Fast hätte man glauben können, sie habe die Rede im stillen geprobt und nur auf den passenden Moment gewartet, um einem Menschen, dem sie vertrauen durfte, ihr Herz auszuschütten. Aber daß ausgerechnet Frances, die doch immer so vernünftig, diskret und auch stolz war, plötzlich ungehemmt all ihrer Bitterkeit und Selbstverachtung freien Lauf ließ, entsetzte Dauntsey. Vielleicht hatten die Trauerfeier und die Erinnerung an die Einäscherung ihres Vaters sie so aufgewühlt, daß nun all der aufgestaute Haß und die Demütigung aus ihr herausbrachen. Er wußte nicht genau, ob er dem gewachsen war, aber er mußte zumindest versuchen, damit fertig zu werden. Diesem beredten Schmerz war nicht beizukommen mit gängigen Trostfloskeln wie: »Er ist es nicht wert, vergiß ihn, die Zeit heilt alle Wunden.« Dabei war zumindest letzteres durchaus zutreffend, die Zeit heilte wirklich alle Wunden, egal ob sie einem durch Verrat zugefügt worden waren oder durch einen schmerzlichen Verlust. Wer hätte das besser wissen können als er? Die eigentliche Tragik, dachte er, ist nicht, daß wir uns über den Verlust eines geliebten Menschen grämen, sondern daß wir eines Tages aufhören, uns zu grämen, und vielleicht sind die Toten erst dann endgültig gestorben.
»Was du dir erträumst«, sagte er behutsam, »Kinder, eine Ehe, ein Heim – das sind durchaus berechtigte, manch einer würde sogar sagen, ganz natürliche Wünsche. Kinder sind unsere einzige Hoffnung auf Unsterblichkeit. Auf keinen Fall brauchst du dich deiner Sehnsüchte zu schämen. Es ist dein Pech, daß Etiennes Wünsche und die deinen nicht übereinstimmen, aber eine Schande ist es auf gar keinen Fall.« Er zögerte; vielleicht war es nicht klug, weiterzusprechen, womöglich würde sie seine Worte grob und gefühllos finden. Aber dann
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