Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
gehört.« Sie blickte wild verstört in die Runde.
James de Witt drehte sich nicht nach ihr um, sondern hielt den Blick unverwandt auf die Treppe gerichtet. Er sagte ganz ruhig: »Da hat keiner geschrieen. Höchstens in Ihrer Phantasie, Amy.«
Dann hörten es alle, laut diesmal und unverkennbar, einen schrillen, verzweifelten Schrei. Sie rückten bis zum Fuß der Treppe vor, doch dort zögerten sie plötzlich, als wage keiner den ersten Schritt nach oben. Sekundenlang blieb alles still, dann setzte das Jammergeschrei wieder ein, das als entferntes Wehklagen begann, dann aber stetig lauter wurde und näher kam. George, der vor Entsetzen wie angewurzelt dastand, konnte die Stimme nicht ausmachen. Sie erschien ihm so unmenschlich wie das Heulen einer Sirene oder das nächtliche Kreischen einer einsamen Katze.
Maggie Fitz-Gerald flüsterte: »Mein Gott, was ist das bloß?«
In diesem Moment erschien, so plötzlich, daß George sie fast für einen Geist gehalten hatte, und mit dramatischem Aplomb, Mrs. Demery oben auf dem Treppenabsatz. Sie stützte Blackie, deren Wehklagen langsam zu stoßweisem Schluchzen verebbte.
James de Witts Stimme war leise, aber sehr klar: »Was ist los, Mrs. Demery? Was ist passiert? Wo ist Mr. Gerard?«
»Im kleinen Archiv. Tot! Ermordet! Das ist passiert. Er liegt da oben halb nackt und steif wie ’n Brett. Irgend’n Teufel hat ihn mit dieser Scheißschlange erdrosselt, jawohl. Sie haben ihm Hissing Sid um den Hals geknotet und den Kopf von dem Viech in seinen Mund gestopft.«
Endlich kam Bewegung in James de Witt. Mit einem Satz war er auf der Treppe. Frances wollte ihm nach, aber er drehte sich um und sagte beschwörend: »Nein, Frances, nein« und schob sie sanft zurück. Lord Stilgoe folgte ihm mit unbeholfen zittrigem Altmännerschritt. Er mußte sich am Treppengeländer festhalten. Gabriel Dauntsey zögerte einen Augenblick, dann ging er den beiden nach.
Mrs. Demery jammerte: »Kann mir vielleicht mal wer helfen? Sie ist schwer wie ’n nasser Sack.«
Frances eilte sofort zu den beiden Frauen und legte einen Arm um Blackies Taille. George, der zu ihnen hochsah, dachte, daß es wohl eher Miss Frances war, die eine Stütze gebraucht hätte. Die beiden nahmen Blackie in die Mitte und mußten sie fast die Treppe hinuntertragen. Blackie stöhnte und flüsterte immerzu: »Es tut mir leid. Es tut mir leid.« Frances und Mrs. Demery führten sie durch die Halle in den hinteren Teil des Hauses, indes das restliche Häuflein an der Treppe ihnen stumm und entsetzt nachblickte.
George ging zurück an den Empfang und zu seiner Telefonvermittlung. Das war sein Platz. Hier fühlte er sich sicher, den Dingen gewachsen. Hier wurde er mit allem fertig. Er hörte Stimmen. Das furchtbare Schluchzen war leiser geworden und wurde jetzt übertönt von Mrs. Demerys schrillem Protest und einem Gewirr von Frauenstimmen. George versuchte, sich dagegen abzuschotten. Es gab Wichtiges zu erledigen, und am besten nahm er es gleich in Angriff. Als erstes versuchte er das Sicherheitsschränkchen unter dem Empfang aufzuschließen, aber seine Hände zitterten so heftig, daß er den Schlüssel nicht ins Schloß bekam. Plötzlich klingelte das Telefon, und er fuhr erschrocken zusammen, suchte fahrig nach den Kopfhörern. Es war Mrs. Velma Pitt-Cowley, und sie verlangte Mr. Gerard zu sprechen. George, dem es zunächst vor Schreck die Sprache verschlagen hatte, brachte schließlich heraus, Mr. Gerard sei nicht erreichbar. Selbst für die eigenen Ohren klang seine Stimme schrill, brüchig, unnatürlich.
»Dann geben Sie mir Miss Claudia. Die wird doch wohl dasein.«
»Nein«, stammelte George, »nein.«
»Was ist denn da los? Sie sind’s doch, George, oder? Was ist denn mit Ihnen?«
Kopflos vor Angst legte George einfach auf. Das Telefon klingelte sofort wieder, aber er ging nicht dran, und nach ein paar Sekunden hörte es auf zu läuten. Ohnmächtig zitternd starrte er auf den Apparat. So was war ihm noch nie passiert. Die Zeit verrann, Sekunden, Minuten. Und dann stand auf einmal Lord Stilgoe hoch aufragend vor seinem Pult, und er konnte seinen Atem riechen und spürte die Gewalt seines triumphalen Zorns.
»Geben Sie mir Scotland Yard, Mann. Ich will den Polizeipräsidenten sprechen. Und wenn der nicht greifbar ist, verbinden Sie mich mit Commander Adam Dalgliesh.«
ZWEITES BUCH
TOD EINES VERLEGERS
18
Detective Inspector Kate Miskin schob einen halbleeren Umzugskarton zur Seite, öffnete die Balkontür
Weitere Kostenlose Bücher