Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Titel: Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
Vom Netzwerk:
ihrer neuen Wohnung in den Docklands und blickte, die Hände auf dem polierten Eichengeländer, die Themse entlang, flußaufwärts bis Limehouse Reach und stromab bis zu der großen Schleife rings um die Isle of Dogs. Es war noch relativ früh, erst Viertel nach neun, aber der Morgennebel hatte sich bereits gehoben, und der fast wolkenlose Himmel schimmerte milchig weiß mit ein paar zaghaft durchblinkenden blauen Tupfern. Es war ein Morgen, wie man ihn eher im Frühling als Mitte Oktober erwartet hätte, aber vom Fluß her roch es doch schon herbstlich, ein starkes Gebräu aus Erde und feuchtem Laub, das die salzige Brise vom Meer überlagerte. Es war gerade Flut, und sie konnte sich vorstellen, wie unter den Lichtpünktchen, die, Leuchtkäfern gleich, auf der gekräuselten Wasserfläche tanzten und flimmerten, der starke Sog der Strömung arbeitete, ja, fast spürte sie seine Kraft. Mit dieser Wohnung, dieser Aussicht war wieder ein Ziel erreicht, hatte sie sich einen Schritt weiter von dem tristen kleinen Loch hoch droben in der Ellison-Fairweather-Siedlung entfernt, wo sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens zugebracht hatte.
    Kates Mutter war wenige Tage nach ihrer Geburt gestorben, der Vater unbekannt, und so kam es, daß sie bei der Großmutter mütterlicherseits aufgewachsen war. Diese fühlte sich gestört durch das Kind, weil es sie buchstäblich zu einer Gefangenen in dieser Hochhauswohnung machte, denn mit einem Säugling in ihrer Obhut konnte sie abends nicht mehr ausgehen, um im Pub des Viertels Gesellschaft, Glanz und Wärme zu suchen. Sie war immer verbitterter geworden, teils weil diese Enkelin so aufgeweckt und intelligent war, teils weil man ihr da eine Verantwortung aufgebürdet hatte, für die sie nach Alter, Gesundheitszustand und Naturell völlig ungeeignet war. Kate selbst hatte zu spät, nämlich erst in der Sterbestunde der Großmutter, begriffen, wie sehr sie sie geliebt hatte, und im nachhinein kam es ihr so vor, als hätten sie sich im Moment dieses Todes gegenseitig einen lebenslangen Rückstand an Liebe erstattet. Sie wußte, daß sie sich nie völlig von der Ellison-Fairweather-Siedlung würde befreien können. Gleich als sie in dem großen modernen Lift in die neue Wohnung heraufgefahren war, hatte sie sich an den Aufzug in Ellison Fairweather erinnert, an die verdreckten, beschmierten Wände mit den Graffiti, an den Uringestank, die Zigarettenkippen, die weggeworfenen Bierdosen. Oft hatten Halbstarke mutwillig den Fahrstuhlbetrieb gestört, und dann mußten sie und die Großmutter ihre Einkäufe und die Wäsche sieben Stockwerke zu Fuß hochschleppen, wobei sie auf jedem Treppenabsatz haltmachten, damit die Großmutter verschnaufen konnte. Und jedesmal, wenn sie dort im Kreise ihrer Plastiktüten auf der Treppe hockte, den pfeifenden Atem der alten Frau im Ohr, hatte sie sich geschworen: »Wenn ich erst groß bin, dann komm’ ich hier raus. Ich werde wegziehen aus dieser Scheiß-Ellison-Fairweather-Siedlung und nie mehr zurückkommen. Ich werde nie mehr arm sein. Und ich werde nie wieder diesen Mief riechen müssen.«
    Sie hatte den Polizeidienst als Sprungbrett gewählt, hatte der Versuchung widerstanden, ihren Abschluß an der höheren Schule zu machen oder sich um die Zulassung zur Universität zu bemühen, weil es ihr einzig darauf ankam, rasch Geld zu verdienen, um fortzukönnen, nur fort. Die erste kleine Wohnung in dem viktorianischen Haus am Holland Park war der Anfang gewesen. Nach dem Tod ihrer Großmutter war sie noch neun Monate in der alten Siedlung geblieben, denn sie wußte, daß ein sofortiger Auszug einer Flucht gleichgekommen wäre – auch wenn ihr nicht ganz klar war, wovor, vielleicht vor einer Realität, der es sich zu stellen galt –, und sie wußte auch, daß Sühne zu leisten war und daß es noch allerhand gab, was sie über sich lernen mußte und nur dort lernen konnte. Die Zeit würde kommen, da sie sich lösen und die Tür mit dem Gefühl schließen durfte, nun sei eine Zäsur erreicht, da sie eine Vergangenheit hinter sich lassen konnte, an der zwar nichts mehr zu ändern war, die sie aber akzeptieren konnte mit all ihren Qualen, ihren Schrecken – ja, und auch Freuden –, versöhnlich und als einen Teil von ihr. Und jetzt war diese Zeit gekommen.
    Die Wohnung war natürlich nicht das, was sie sich ursprünglich erträumt hatte. Sie hatte sich in einem der großen umgebauten Speicherhäuser unweit der Tower Bridge gesehen, in einer Wohnung mit

Weitere Kostenlose Bücher