Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Blackie nahm wie immer vorn am Bug Platz. Heute hätte sie sich zwar lieber allein ans Heck verzogen, aber auch das hätte womöglich verdächtig gewirkt. Jedes ihrer Worte, jede Handlung war ihr übertrieben deutlich bewußt, gerade so, als würde sie von der Polizei vernommen und müsse aufpassen, was sie sagte oder tat. Sie hörte, wie James de Witt den anderen erzählte, daß Miss Frances ihn gestern noch spätabends angerufen habe, um ihm mitzuteilen, daß Mr. Dauntsey überfallen worden sei. Es war nach seiner Dichterlesung passiert. Zum Glück hatten zwei Herrschaften, die auch in dem Pub gewesen waren, ihn gleich danach gefunden und auf die Unfallstation im St.-Thomas-Krankenhaus gebracht. Der Schock hatte ihm mehr zugesetzt als der Überfall, und inzwischen war er wieder wohlauf. Blackie sagte nichts dazu. Das war schließlich nur ein weiteres, relativ kleines Mißgeschick, wieder mal hatte jemand Pech gehabt. Wie unwichtig schien das im Vergleich zu der drückenden Last ihrer eigenen Angst.
Sonst freute sie sich immer auf die Bootsfahrt. Obwohl sie die gleiche Tour nun schon seit über fünfundzwanzig Jahren machte, hatte die Strecke ihren Reiz für Blackie noch immer nicht verloren. Aber heute erschienen ihr die vertrauten Wahrzeichen nur wie Wegmarken auf der Fahrt in die Katastrophe: die eleganten Eisenverzierungen der Blackfriars-Eisenbahnbrücke; die Southwark Bridge mit der Treppenverbindung zum Southwark Causeway, dem Damm, von dem aus Christopher Wren sich, während er den Bau der St. Paul’s Cathedral überwachte, immer über den Fluß rudern ließ; die London Bridge, an deren beiden Enden einst die aufgespießten Häupter von Verrätern zur Schau gestellt wurden; das Traitor’s Gate, das, als die Themse noch Londons Hauptverkehrsweg war, den Zugang zum Tower vom Wasser her bildete, inzwischen aber längst trocken ist und grün überwuchert von Algen und Unkraut; und Dead Man’s Hole unter der Tower Bridge, wo in alter Zeit die Asche der Toten verstreut wurde, weil es damals außerhalb der Stadtgrenzen lag; endlich die Tower Bridge selbst, dieses Zuckerbäckerwerk mit den weiß und himmelblau leuchtenden Fußgängerüberwegen hoch oben zwischen den Turmspitzen mit ihrem vergoldeten Zierat; und unmittelbar davor das Museumsschiff H. M. S. Belfast, der größte Kreuzer der Royal Navy, der am Nordkap, in der Normandie und in Korea zum Einsatz gekommen war. Heute ließ Blackie das alles teilnahmslos an sich vorüberziehen. Zwar redete sie sich ein, daß diese Bangigkeit lächerlich und ganz überflüssig sei; daß sie nur eine kleine Schuld auf sich geladen habe, die im übrigen vielleicht gar nicht so wichtig oder so tadelnswert war; daß sie nur die Nerven behalten müsse, und alles würde gut ausgehen. Aber ihre Herzbeklemmung, die sich inzwischen zu panischer Angst gesteigert hatte, wuchs mit jeder Minute, die sie Innocent House näher brachte, ja sie bildete sich sogar ein, daß ihre gedrückte Stimmung sich auch auf die anderen Passagiere übertrug. Mr. de Witt saß während der Überfahrt meist schweigend hinter seiner Zeitung oder einem Buch, doch die Mädchen waren normalerweise sehr redselig. An diesem Morgen aber verstummten alle, als die Fähre schwerfällig auf ihre angestammte Muring rechts von der Ufertreppe zuschaukelte.
De Witt sagte unvermittelt: »Innocent House. Da wären wir also…«
Der aufgesetzten Fröhlichkeit in seiner Stimme nach zu urteilen hätten sie gerade von einer Vergnügungsfahrt zurückgekehrt sein können, aber sein Gesicht war wie versteinert. Blackie fragte sich, was wohl mit ihm los sei, was ihm durch den Kopf gehen mochte. Dann, als sie zusammen mit den anderen langsam und vorsichtig die von der Flut überspülten Stufen zur Marmorterrasse hinaufstieg, wappnete sie sich nur noch gegen das, was sie an diesem Tag alles erwarten mochte.
17
George Copeland, der sich in linkischer Verlegenheit hinter seinem Empfangstisch verschanzt hatte, vernahm erleichtert die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Die Fähre war also endlich angekommen. Lord Stilgoe unterbrach sein zorniges Auf-und-Ab-Marschieren, und beide wandten sich zur Tür. Die kleine Gruppe näherte sich geschlossen, mit James de Witt an der Spitze. Mr. de Witt erfaßte mit einem Blick Georges ängstliche Miene und fragte rasch: »Was nicht in Ordnung, George?«
Die Antwort kam von Lord Stilgoe. Ohne de Witt zu begrüßen, sagte er barsch: »Etienne ist verschwunden. Ich hatte um neun einen Termin
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