Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Einheit, die man nur mit besonders schwierigen Fällen betraut.«
Daniel aber hatte mit einer Bitterkeit, die ihn selbst überraschte, eingewandt: »Ich bin mir nicht sicher, ob das die Schande wettmacht. Außerdem, was wird die alte Schrulle schon tun? Ohnmächtig in ihren Krabbencocktail fallen? Warum sollte mein Job sie stören, es sei denn, ihr Alter dreht krumme Dinger?« O mein Gott, hatte er gedacht, jetzt fang’ ich schon wieder an. Noch dazu an ihrem Geburtstag. »Kopf hoch, Mutter! Immerhin hast du wenigstens einen ehrbaren Sohn. Du kannst Mrs. Forsdyke ja sagen, daß es Davids Job ist zu lügen, um Verbrecher aus dem Kittchen rauszuhalten, und daß ich das gleiche tue, um sie einzubuchten.«
Ach was, sollten sie doch ihren Spaß dran haben, bei der Vorspeise über ihn herzuziehen. Und Bella würde natürlich auch dasein. Sie war Anwalt, wie David, aber sie hatte sich bestimmt für den Hochzeitstag seiner Eltern freigemacht. Bella, die ideale Schwiegertochter in spe. Bella, die Jiddisch lernte, zweimal im Jahr nach Israel reiste und Geld für die Immigranten aus Rußland und Äthiopien sammelte, Bella, die in die Beit Midrasch ging, die Talmudschule an der Synagoge, und die den Sabbat einhielt; Bella, die nur allzu gerne ihre vorwurfsvollen dunklen Augen auf Daniel richtete und um sein Seelenheil bangte.
Es hatte keinen Zweck, ihnen zu sagen: »Ich glaube nicht mehr daran.« Denn wieviel glaubten seine Eltern schließlich noch? Angenommen, man riefe sie unter Eid in den Zeugenstand und fragte sie, ob sie wirklich glaubten, daß Moses am Sinai die Thora aus Gottes eigener Hand empfangen habe und daß ihr Leben von der richtigen Antwort abhinge. Was würden sie sagen? Einmal hatte Daniel seinem Bruder die Frage gestellt, und er erinnerte sich noch an dessen Antwort. Sie hatte ihn damals überrascht und tat es noch heute, denn sie ließ darauf schließen, daß David zu hintergründigen Sophistereien fähig war, auf die er, Daniel, sich nie verstanden hatte – ein beunruhigender Gedanke.
»Ich würde vermutlich lügen. Es gibt Überzeugungen, für die es sich zu sterben lohnt, und zwar unabhängig davon, ob sie hundert Prozent der Wahrheit entsprechen oder nicht.«
Seine Mutter würde es natürlich nie über sich bringen zu sagen: »Mir ist es gleich, ob du gläubig bist oder nicht, aber ich möchte dich am Sabbat hier bei uns haben. Ich wünsche mir, daß man dich mit deinem Vater und deinem Bruder zusammen in der Synagoge sieht.« Und daß sie es nicht fertigbrachte, war keine geistige Verlogenheit, auch wenn er sich das einzureden versuchte. Man konnte dagegenhalten, daß die wenigsten Anhänger irgendeiner Religion an alle Dogmen ihres Bekenntnisses glaubten, die Fundamentalisten ausgenommen, und die waren weiß Gott allemal gefährlicher als jeder Ungläubige. Weiß Gott. Wie leicht es doch war und wie verbreitet, in die Sprache des Glaubens zu verfallen. Und vielleicht hatte seine Mutter sogar recht, auch wenn sie es nie über sich bringen würde, die Wahrheit auszusprechen. Die Konventionen waren wichtig. Praktische Religionsausübung war nicht nur eine Frage des geistigen Einverständnisses. Sich in der Synagoge zu zeigen, war ein Bekenntnis; hier gehöre ich hin, dies ist meine Gemeinde, dies sind die Werte, nach denen ich zu leben versuche, das ist es, was Generationen von Vorfahren aus mir gemacht haben, das bin ich. Er erinnerte sich der Worte, die der Großvater nach seiner Bar-Mizwa zu ihm gesprochen hatte: »Was ist ein Jude ohne seinen Glauben? Sollen wir uns das, was Hitler uns nicht antun konnte, selbst antun?« Der alte Groll stieg wieder in Daniel hoch. Einem Juden erlaubte man nicht mal seinen Atheismus. Schuldbeladen von Kindheit auf, konnte er sich nicht von seinem Glauben abkehren, ohne gleich das Bedürfnis zu haben, den Gott, an den er nicht mehr glaubte, um Verzeihung zu bitten. Denn in seinem Unterbewußtsein war es immer präsent, als stummer Zeuge seiner Abtrünnigkeit, jenes sich langsam dahinschleppende Heer nackten Menschentums – Junge, Erwachsene, Kinder –, das wie ein dunkler Strom in die Gaskammern floß.
Und als er jetzt wieder vor einer roten Ampel hielt und an das Haus dachte, in dem er sich nie heimisch fühlen würde, als vor seinem inneren Auge deutlich die blitzblanken Fenster erschienen, die gerafften Spitzengardinen mit den Schleifen und der manikürte Rasen vorm Haus, da fragte er sich: Warum muß ich mich eigentlich durch das Unrecht definieren, das
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