Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
andere meinem Volk zugefügt haben? Die Schuld ist schon schlimm genug; muß ich denn auch noch die Last der Unschuld tragen? Ich bin Jude, reicht denn das nicht? Muß ich mir und anderen dauernd die Sünden der Menschheit vor Augen führen?
Er hatte endlich The Highway erreicht und unberechenbar, wie es seine Art ist, hatte der Verkehr auf einmal nachgelassen, und er kam jetzt zügig voran. Mit etwas Glück würde er in fünf Minuten in Innocent House ankommen. Dieser Tod würde nicht alltäglich sein, dieses Rätsel war bestimmt nicht leicht zu lösen. Bei einem Routinefall hätte man ihr Team nicht eingeschaltet.
Für die unmittelbar Betroffenen war vielleicht kein Tod alltäglich und keine Untersuchung reine Routine. Aber dies war seine Chance, Adam Dalgliesh zu beweisen, daß er recht daran getan hatte, ihn als Massinghams Vertretung einzusetzen, und er war fest entschlossen, diese Chance wahrzunehmen. Nichts war so wichtig, weder privat noch beruflich, daß es dahinter nicht hätte zurückstehen müssen.
20
Das Polizeiboot tuckerte gegen eine starke Strömung flußaufwärts um die Nordschleife der Themse, zwischen Rotherhithe und Narrow Street. Die Brise frischte auf zu einem leichten Wind, und der Tag schien Kate kälter, als sie es morgens beim Aufwachen empfunden hatte. Vereinzelte Wolken, eigentlich kaum mehr als weiße Kondensstreifen, trieben, sich rasch auflösend, am blaßblauen Himmel. Sie hatte Innocent House früher schon vom Fluß aus gesehen, aber als der Palazzo jetzt, kaum daß sie die Biegung bei Limehouse Reach umrundet hatten, so überraschend vor ihr auftauchte wie ein Theaterprospekt, da entfuhr ihr ein staunendes Ach, und als sie gleich darauf verstohlen zu Dalgliesh hinüberblickte, erhaschte sie auf seinem Gesicht ein kleines Lächeln. Im vormittäglichen Sonnenlicht schimmerte der Palazzo so unwirklich hell und intensiv, daß sie einen Moment lang glaubte, er sei angestrahlt. Als der Motor abgestellt war und der Fährmann das Boot geschickt an die Reihe Autoreifen manövrierte, die als Dämpfer rechts vom Landesteg hingen, hätte sie das Haus beinahe für eine Filmdekoration halten können, eine aus Preßspanplatten und Kleister zusammengebastelte Kulisse, hinter deren Pappmachéwänden Regisseur, Darsteller und Beleuchter bereits eifrig mit der Leiche probierten, während die Maskenbildnerin ein ums andere Mal nach vorne gesaust kam, um hier eine glänzende Stirn abzudecken und dort einen letzten Spritzer Kunstblut aufzutragen. Dieses Hirngespinst beunruhigte Kate, denn normalerweise hatte sie weder ein besonderes Faible für die Schauspielerei, noch neigte sie zu phantasievollen Höhenflügen, aber dieses Gefühl, einer gestellten Szene beizuwohnen, zugleich Zuschauer und Mitakteur zu sein, ließ sich nur schwer abschütteln, ja, es wurde im Gegenteil noch verstärkt durch das unbewegliche Arrangement des Empfangskomitees.
Es waren zwei Männer und zwei Frauen. Die Frauen standen, von den Männern eingerahmt, eine Idee weiter vorn. Reglos wie Statuen waren sie auf dem geräumigen, marmornen Vorplatz gruppiert und beobachteten das Vertäuen des Bootes mit ernster und, wie es schien, kritischer Miene. Dalgliesh hatte, trotz der kurzen Fahrt, Zeit gefunden, Kate kurz ins Bild zu setzen, und so konnte sie ungefähr erraten, wen sie vor sich hatte. Die hochgewachsene Dunkelhaarige mußte Claudia Etienne sein, die Schwester des Toten, und die Frau zu ihrer Linken war vermutlich die letzte der Peverells, Frances Peverell. Der ältere der beiden Männer, den sie auf gut über siebzig schätzte, war wohl Gabriel Dauntsey, Lektor für Lyrik und schöngeistige Literatur, und den jüngeren hielt sie für James de Witt. Die vier waren wie für ein Foto gruppiert, so als hätte ein Regisseur sie kameragerecht im passenden Winkel aufgestellt, aber als Dalgliesh jetzt vortrat, löste sich der kleine Zirkel auf, und Claudia Etienne, die ihnen mit ausgestreckter Hand entgegenkam, stellte sie einander vor. Danach machte sie kehrt, und Kate und Dalgliesh folgten ihr über ein kopfsteingepflastertes Gäßchen zum Seiteneingang.
Ein älterer Mann saß an der Telefonvermittlung hinter dem Empfangstresen. Mit seinem blassen, glatten Gesicht, einem fast vollkommenen Oval, dazu den kleinen roten Klecksen auf den Wangen und den sanften Augen erinnerte er an einen ältlichen Clown. Er sah zu ihnen auf, als sie eintraten, und Kate las in den leuchtenden Augen eine Mischung aus Bangigkeit und Flehen. Sie
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