Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
herausgenommen und so ein sehr langgestrecktes Arbeitszimmer geschaffen worden, das fast die gesamte Front des Hauses einnahm. Die Reihen hölzerner Aktenregale, die im rechten Winkel zur Tür verliefen und fast bis an die Decke reichten, standen so dicht, daß kaum Platz genug blieb, um einigermaßen bequem zwischen ihnen hindurchzugehen. Zwischen den einzelnen Reihen hingen etliche Glühbirnen ohne Schirm. Sechs längliche Fenster, durch die Kate einen Blick auf eine kunstvoll gemeißelte Steinbalustrade erhaschte, ließen das Tageslicht herein. Claudia Etienne führte sie nach rechts, über eine circa ein Meter zwanzig breite freie Fläche zwischen Regalabschluß und Wand, vor eine weitere Tür.
Claudia reichte Dalgliesh wortlos den Schlüssel. »Wenn Sie sich den Anblick noch einmal zumuten könnten«, sagte er, »dann würde ich Sie bitten, uns zu bestätigen, daß der Raum und die Leiche Ihres Bruders seit Ihrem letzten Hiersein unverändert geblieben sind. Aber falls es Ihnen zu schwerfällt, brauchen Sie sich nicht zu zwingen. Es wäre eine Hilfe für uns, aber es muß nicht unbedingt gleich sein.«
»Nein, nein, schon gut«, sagte sie. »Heute wird es mir wahrscheinlich leichter fallen als morgen. Ich kann nämlich immer noch nicht glauben, daß es wirklich passiert ist. Es hat so gar nichts Reales, weder konkret noch von meinem Gefühl her. Aber morgen werde ich wohl wissen, daß es wirklich passiert und daß diese Wirklichkeit endgültig ist.«
Für Kate waren es ihre Worte, die unwirklich klangen. In Claudia Etiennes wohlkomponierter Rede schwang eine Falschheit und Theatralik mit, als ob sie sich die Worte im voraus zurechtgelegt hätte. Aber Kate ermahnte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Wie leicht konnte man die Verwirrung, die ein großer Schmerz in einem Menschen anrichtet, mißdeuten. Kate wußte sicher besser als mancher andere, wie befremdlich und unangemessen die erste Reaktion auf einen Unglücksfall oder einen schweren Verlust mitunter ausfiel. Sie erinnerte sich an die Frau eines Busfahrers, der in einem Pub in Islington erstochen worden war; sie hatte als erstes darüber lamentiert, daß er an diesem Morgen kein frisches Hemd angezogen und den Totoschein nicht aufgegeben hatte. Und doch hatte diese Frau ihren Mann geliebt und aufrichtig um ihn getrauert.
Dalgliesh zückte den Schlüssel, den Claudia Etienne ihm gegeben hatte. Er drehte sich leicht im Schloß, und Dalgliesh öffnete die Tür. Ein säuerlicher, gasähnlicher Geruch, wie die Ausdünstung einer schrecklichen Krankheit, wehte ihnen entgegen. Der halbnackte Leichnam schien sie mit der grellen Theatralik des Todes anzuspringen und einen Moment lang wie unwirklich in der Schwebe zu verharren, ein ebenso bizarres wie eindrucksvolles Bild, das freilich die stille Atmosphäre des Raumes zerstörte.
Der Tote lag auf dem Rücken, mit den Füßen zur Tür. Er trug graue Hosen und graue Socken. Die Schuhe aus feinem schwarzen Leder wirkten wie neu, die Sohlen waren kaum abgenutzt.
Seltsam, dachte Kate, daß einem ausgerechnet solche Kleinigkeiten auffallen. Etiennes Oberkörper war nackt, aber in der weit vom Rumpf weggestreckten rechten Faust hielt er den Zipfel eines zusammengeknüllten weißen Hemds. Eine Samtschlange war zweimal um seinen Hals gewickelt, ihr Schwanz lag auf seiner Brust, den Kopf hatte man ihm zwischen die klaffenden Kiefer gestopft. Etiennes Augen waren offen und glasig, unverkennbar die Augen des Todes, aber Kate glaubte einen flüchtigen Moment lang in ihrem starren Blick Empörung und ungläubiges Staunen zu lesen. Sie wunderte sich, wie intensiv die Farben waren, und wie unnatürlich leuchtend: vom satten Braun seiner Haare über das unecht wirkende Rosarot von Gesicht und Körper bis zu dem grellweißen Hemd und der giftgrünen Schlange. Plötzlich hatte Kate so deutlich das Gefühl, daß die Leiche eine physische Kraft ausströmte, daß sie unwillkürlich zurückschreckte und dabei mit der Schulter leicht gegen die von Claudia prallte. »Tut mir leid«, murmelte sie und schämte sich fast im selben Moment der, selbst nur auf diesen flüchtigen Zusammenstoß bezogenen, armseligen Verlegenheitsfloskel. Dann, ganz plötzlich, verblaßte die Vision, und die Realität behauptete wieder ihren Platz. Der Leichnam wurde wieder zu dem, was er war: totes, nacktes Fleisch, grotesk hergerichtet und zur Schau gestellt wie auf einer Bühne.
Mit einem raschen Blick erfaßte Kate jetzt, von der Türschwelle
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