Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
aus, den Raum in allen Einzelheiten. Er war klein, höchstens dreieinhalb mal zweieinhalb Meter, und mit den bloßen Holzdielen und den kahlen Wänden wirkte er trostlos wie eine Hinrichtungskammer. Das einzige Fenster, eigentlich nur ein Oberlicht, war fest geschlossen, und von der Deckenmitte hing eine einzelne, weißbeschirmte Glühbirne herab. Am Fensterrahmen baumelte eine abgerissene Zugschnur von nicht mehr als sieben, acht Zentimetern Länge. Links vom Fenster befand sich ein kleiner viktorianischer Kamin mit einem gekachelten Sims, darauf abgebildet Obst- und Blumenmotive. Der Feuerrost war gegen einen altmodischen Gasofen ausgetauscht worden. An der gegenüberliegenden Wand stand ein kleiner Holztisch mit einer modernen schwarzen Gelenkleuchte und zwei Ablagekörben aus Drahtgeflecht, in denen jeweils ein paar abgewetzte braune Schnellhefter lagen. Etwas stimmte hier nicht, irgendeine Kleinigkeit: Kate sah sich nach der anderen Hälfte der Zugschnur um und entdeckte sie schließlich unter dem Tisch; sie lag da, als hätte jemand sie beiläufig dorthin befördert oder mit einem Fußtritt aus dem Weg geschoben. Claudia Etienne stand immer noch dicht neben ihr. Kate spürte auf einmal, wie still sie war, wie flach und beherrscht ihr Atem ging.
»Haben Sie das Zimmer so vorgefunden, Miss Etienne?« fragte Dalgliesh. »Und fällt Ihnen jetzt irgend etwas auf, das Sie vorher nicht bemerkt haben?«
»Es ist alles unverändert«, sagte sie. »Wie könnte es auch anders sein? Ich habe ja vorhin selber abgeschlossen. Auf das Zimmer habe ich freilich nicht sonderlich geachtet, als ich – als ich ihn fand.«
»Haben Sie den Leichnam berührt?«
»Ich hab’ mich neben ihn gekniet und sein Gesicht befühlt. Es war ganz kalt, aber ich wußte schon vorher, daß er tot war. Ich blieb eine Weile so neben ihm niedergekniet. Und als die anderen gegangen waren, da hab’ ich, glaube ich…« Sie stockte und fuhr dann entschlossen fort: »Ich habe meine Wange kurz gegen die seine gelehnt.«
»Und was ist mit dem Zimmer?«
»Es kommt mir jetzt irgendwie komisch vor. Ich bin zwar nicht oft hier oben – das letztemal war an dem Tag, als ich Sonia Clements’ Leiche fand –, aber es sieht anders aus, leerer, sauberer. Und etwas fehlt. Ja, richtig, das Diktiergerät. Gabriel – Mr. Dauntsey – diktiert immer auf Band, und den Recorder läßt er in der Regel hier auf dem Tisch stehen. Und daß die Schnur vom Oberlicht abgerissen ist, habe ich auch nicht gesehen, als ich das erstemal reinkam. Wo ist das andere Ende? Liegt Gerard etwa drauf?«
»Nein«, sagte Kate, »es liegt unterm Tisch.«
Claudia Etiennes Blick folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger, und sie sagte: »Wie eigenartig. Man würde doch annehmen, daß es beim Fenster liegt.«
Sie schwankte plötzlich, und Kate wollte sie stützen, doch Claudia schüttelte ihre Hand hastig ab.
»Danke, daß Sie mit uns heraufgekommen sind, Miss Etienne«, sagte Dalgliesh. »Ich weiß, das war nicht leicht für Sie. Ich habe im Augenblick keine weiteren Fragen. Kate, würden Sie bitte…?«
Aber bevor Kate etwas sagen konnte, rief Claudia Etienne: »Fassen Sie mich nicht an! Ich bin durchaus imstande, allein die Treppe runterzugehen. Ich warte im Sitzungssaal, falls Sie mich noch einmal brauchen sollten.«
Doch als sie die enge Stiege hinunterwollte, war der Weg blockiert. Man hörte Männerstimmen und eilige, leichte Schritte. Wenige Sekunden später betrat Daniel Aaron den Raum, gefolgt von zwei Beamten der Spurensicherung, Charlie Ferris nebst seinem Assistenten.
»Tut mir leid, daß ich so spät komme, Sir«, sagte Aaron. »Aber ich bin auf der Whitechapel Road im Stau steckengeblieben.«
Er sah Kate an, ihre Blicke trafen sich, und er zuckte mit einem bedauernden kleinen Lächeln die Achseln. Sie achtete ihn und mochte ihn gut leiden, hatte auch keinerlei Probleme mit der Zusammenarbeit. Gegenüber Massingham war er in jeder Hinsicht ein Gewinn, aber eins hatte er mit seinem Vorgänger gemeinsam: Auch ihn wurmte es, wenn er feststellen mußte, daß Kate vor ihm am Tatort eingetroffen war.
21
Die vier Gesellschafter hatten sich gemeinsam in den Sitzungssaal im ersten Stock begeben, was aber weniger einem gezielten Vorsatz entsprang als vielmehr der stillschweigenden Übereinkunft, daß es klüger sei, zusammenzubleiben, zu hören, was zwischen den anderen gesprochen wurde, sich wenigstens am – wenn auch wohl nur eingebildeten – Trost vom geteilten Leid
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