Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
doch zu gut zu ihm, als daß die Kollegen es sich immer verkneifen konnten. Er hatte stechende Äuglein mit ganz hellen Wimpern, eine lange, hochgradig geruchsempfindliche Nase und winzige, feinnervig penible Finger, die selbst mikroskopisch kleine Teilchen auflesen konnten, als wären sie mit Magneten bestückt. Im Dienst präsentierte er sich gern in exzentrisch bis skurril wirkendem Outfit; auf Spurensuche beispielsweise bestand seine Lieblingskleidung aus enganliegenden Baumwollshorts oder -hosen, einem Sweatshirt, Ärztehandschuhen aus Latex und einer Plastikbadekappe. Sein berufliches Kredo lautete: Kein Mörder verläßt den Schauplatz seines Verbrechens, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Und die aufzuspüren war sein Job.
»Sie kämmen alles durch wie immer, Charlie«, sagte Dalgliesh. »Aber wir brauchen noch einen Techniker, der den Gasofen ausbaut und mir einen genauen Bericht über das Ding schreibt. Machen Sie’s dringend. Falls der Abzug blockiert ist, soll der Schutt ins Labor geschickt werden, und dazu gegebenenfalls eine Probe vom losen Schamott der Kaminauskleidung. Es ist ein sehr altes Modell mit abschraubbarem Hahn, wie man sie früher in Kinderzimmern hatte. Ich weiß nicht, ob wir von dem einen brauchbaren Fingerabdruck kriegen, aber ich glaub’s kaum. Auf jeden Fall müssen sämtliche Flächen des Ofens auf Fingerabdrücke untersucht werden. Ganz wichtig ist außerdem die Zugschnur vom Fenster. Ich möchte wissen, ob es eine natürliche Verschleißerscheinung war, daß sie sich durchgescheuert hat, oder ob sie mit Gewalt abgerissen wurde. Mehr als ein vorbehaltliches Gutachten werden Sie wohl kaum kriegen, aber vielleicht kann das Labor ja weiterhelfen.«
Dalgliesh überließ die Leute ihrer Arbeit und kniete sich neben den Leichnam. Nachdem er das Gesicht des Toten aufmerksam betrachtet hatte, befühlte er vorsichtig seine Wangen. Lag es nur an seiner Einbildung und an dem geröteten Teint, daß die Haut sich warm anfühlte? Oder hatte die Wärme seiner eigenen Finger dem toten Fleisch sekundenlang falsches Leben eingehaucht? Vorsichtig, um die Schlange nicht zu verschieben, tastete er sich mit der Hand hinunter zum Kiefer. Die Haut gab nach, der Knochen bewegte sich unter seinem sanften Druck.
»Seht doch mal zu«, sagte er zu Kate und Daniel, »was ihr aus dem klaffenden Kiefergelenk machen könnt. Aber Vorsicht, ich will, daß die Schlange bis nach der Obduktion genau an derselben Stelle bleibt.«
Sie knieten abwechselnd neben der Leiche nieder, Kate zuerst, und betasteten die Kinnlade, studierten das Gesicht aus nächster Nähe und legten die Hände auf den nackten Oberkörper.
»In der oberen Körperhälfte ist die Totenstarre schon weit fortgeschritten«, sagte Daniel, »aber der Kiefer ist frei beweglich.«
»Und das heißt?«
Diesmal antwortete Kate. »Daß jemand den Kiefer ein paar Stunden nach Eintritt des Todes gewaltsam aufgestemmt hat. Wahrscheinlich war das nötig, um ihm die Schlange in den Mund zu stopfen. Aber warum die Mühe? Wieso hat der Täter sie ihm nicht einfach um den Hals gewickelt? Damit hätte er doch die gleiche Wirkung erzielt.«
»Nur nicht auf so dramatische Weise«, wandte Daniel ein.
»Mag sein. Jedenfalls beweist die gewaltsame Öffnung des Kiefers, daß jemand bei Etienne gewesen ist, als der schon etliche Stunden tot war. Es könnte der Mörder gewesen sein – falls wir es hier mit Mord zu tun haben –, oder auch jemand anders. Und auf diese nachträgliche Visite bei dem Toten wären wir nie gekommen, wenn man ihm die Schlange bloß um den Hals gewickelt hätte.«
»Vielleicht«, mutmaßte Daniel, »wollte uns der Mörder ja absichtlich darauf stoßen.«
Dalgliesh sah sich die Schlange genauer an. Sie war etwa anderthalb Meter lang und offenbar eins von diesen Dingern, mit denen man sich gegen Zugluft schützt. Die Oberseite bestand aus gestreiftem Samt, die untere Hälfte aus einem strapazierfähigeren Material. Unter dem weichen Samt ertastete er eine körnige Füllung.
Aus dem großen Archivbüro vorn an der Treppe näherten sich gemächliche Schritte. »Hört sich an, als ob Doc Wardle im Anmarsch wär’«, sagte Daniel.
Wardle war knapp eins neunzig groß, und sein schlecht sitzendes, dünnes Jackett hing ihm schlabberig von den breiten, knochigen Schultern, über denen ein imposanter Kopf aufragte. Mit der vorspringenden, fleckigen Nase, den flinken, scharfen Augen unter buschigen Brauen, die so kräftig und üppig
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