Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
davon zu erzählen, aber während er auf den alten Mann wartete, stieg jener Abend wieder in solcher Klarheit vor ihm auf, daß er den Schritten, die sich jetzt vom Hauptarchiv her näherten, mit geradezu jugendlicher Erregung lauschte. Von den beiden Weltkriegen hatte der erste die größere Dichtung hervorgebracht, und manchmal beschäftigte sich Dalgliesh in Gedanken mit der Frage, warum das wohl so war. Lag es daran, daß mit dem Jahr 1914 die Unschuld zu Grabe getragen wurde, daß dieser verheerende Kahlschlag mehr als nur eine brillante Generation dahingerafft hatte? Jedenfalls hatte es ein paar Jahre lang – waren es wirklich nur drei gewesen? – den Anschein gehabt, als könne Dauntsey der Wilfred Owen seiner Zeit, jenes ganz anderen Krieges werden. Aber die Hoffnung, die seine ersten zwei Gedichtbände weckten, hatte sich nie erfüllt, und danach hatte Dauntsey nichts mehr veröffentlicht. Dalgliesh wußte freilich, daß der Begriff Hoffnung, mit dem man in diesem Zusammenhang eine zwar vielversprechende, aber noch nicht ausgereifte Begabung assoziierte, hier kaum zutreffend war. Denn ein oder zwei dieser frühen Gedichte waren auf einem stilistischen Niveau angesiedelt gewesen, das nur wenige der späteren Nachkriegsdichter je erreicht hatten.
Nach dieser Lesung hatte Dalgliesh alles über Dauntsey herausgefunden, was dieser bereit war, der Öffentlichkeit preiszugeben. Wie er damals in Frankreich lebte, geschäftlich in England weilte, als der Krieg ausbrach, indes seine Frau und die beiden Kinder daheim vom Einmarsch der Deutschen überrascht wurden; wie sie danach spurlos aus sämtlichen Akten verschwunden waren, so daß er erst durch jahrelange Suche nach dem Krieg herausfand, daß alle drei, die, um der Internierung zu entgehen, unter falschem Namen gelebt hatten, bei einem britischen Luftangriff aufs besetzte Frankreich umgekommen wären. Dauntsey selbst hatte einem Bombengeschwader der RAF angehört, aber der Gipfel tragischer Ironie war ihm erspart geblieben; er hatte nicht an dem entscheidenden Einsatz teilgenommen. Dauntseys Lyrik thematisierte den modernen Krieg, er schrieb über Schmerz und Verlust, über Schrecken und Mut, Kameradschaft, Feigheit und Niederlage. Seine mitunter emphatischen, sperrig-brutalen Verse wurden aufgehellt von Passagen lyrischer Schönheit, einprägsam wie Granaten, die im Kopf explodieren. Da erhoben sich die riesigen Lancaster-Bomber, den Tod im Bauch, wie schwerfälliges Fabelgetier in die Lüfte; der stille nächtliche Himmel barst in einer Kakophonie des Schreckens; die blutjunge Crew, für die er, der doch selbst kaum älter war, die Verantwortung trug, kletterte Nacht für Nacht mühsam, durch ihre schwere Ausrüstung behindert, in diesen ungeschützten metallenen Rumpf und wußte, daß nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit gerade dies die Nacht sein konnte, in der sie wie brennende Fackeln vom Himmel fallen würden. Und immer wieder dieses Gefühl der Schuld, der Gedanke, daß dieser nächtliche Schrecken, den man zugleich fürchtete und herbeiwünschte, ein Akt der Sühne war und daß es hier um einen Verrat ging, der sich nur mit dem Tode büßen ließ, einen persönlichen Verrat, der im kleinen die trostlose Befindlichkeit der ganzen Welt widerspiegelte.
Und nun war er hier, ein ganz gewöhnlicher alter Mann, sofern man einen alten Menschen überhaupt als gewöhnlich bezeichnen konnte, ungebeugt, aber in seiner Haltung von derart spürbarer eiserner Disziplin, als wolle er mit seiner Anstrengung beweisen, daß Ausdauer und Mut sehr wohl über Vergänglichkeit und Verfall triumphieren können. Das Alter erzeugt entweder jene schlaffe Pausbäckigkeit, die den Charakter eines Gesichts auf ein verrunzeltes Nichts reduziert, oder es höhlt es aus, wie hier, so daß die Knochen hervorspringen wie bei einem vorübergehend mit gegerbtem, papierdünnem Fleisch überzogenen Skelett. Aber Dauntseys Haare waren, obzwar ergraut, noch voll und dicht, und die Augen – so schwarz und flink, wie Dalgliesh sie in Erinnerung hatte – richteten sich jetzt mit ironisch fragendem Blick auf ihn.
Dalgliesh holte den Stuhl vom Tisch und stellte ihn neben die Tür. Dauntsey setzte sich.
»Sie sind heute früh mit Lord Stilgoe und Mr. de Witt hier heraufgekommen«, stellte Dalgliesh fest. »Ist Ihnen da – abgesehen von der Leiche natürlich – an diesem Raum irgend etwas aufgefallen?«
»Anfangs nicht, nein, mal abgesehen von dem unangenehmen Geruch. Ein halbnackter
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