Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
war.
Wahrscheinlich hat sie das Haus für sicher gehalten. Vielleicht war es
ihr aber auch gar nicht so wichtig. Sie hat nicht gelebt wie eine
reiche Frau.«
»Hoffentlich erfahren wir, wer von dieser Großzügigkeit
profitieren wird, wenn Newton Macklefield mit dem Testament kommt.«
Sie wandten ihre Aufmerksamkeit den Kopien ihrer sämtlichen
Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zu. Auf jedem Ordner stand, welche
Jahre darin enthalten waren. Die Artikel darin waren chronologisch
geordnet, manche steckten in Plastikmappen. Jeder nahm sich einen
Ordner und machte sich an die Arbeit.
»Achten Sie auf alles, was irgendwie mit Cheverell Manor oder
einem seiner Bewohner zu tun hat, so indirekt es auch sein mag«, sagte
Dalgliesh.
Fast eine Stunde lang arbeiteten sie schweigend, dann schob
Kate einen Stapel Zeitungsausschnitte über den Schreibtisch. »Das hier
ist interessant, Sir. Es ist ein langer Artikel aus dem Paternoster
Review. Er erschien in der Frühjahrsausgabe 2002 und handelt
von Plagiaten. Er scheint ziemliches Aufsehen erregt zu haben. Es sind
einige Zeitungsausschnitte beigeheftet, darunter sind auch ein Artikel
über eine gerichtliche Untersuchung und ein weiterer über eine
Beerdigung, samt Foto.« Sie schob ihn hinüber. »Eine der Personen am
Grab hat starke Ähnlichkeit mit Miss Westhall.«
Dalgliesh nahm eine Lupe aus dem Spurensicherungskoffer und
betrachtete das Bild genauer. Die Frau trug keinen Hut und stand ein
wenig abseits von den übrigen Trauergästen. Lediglich ihr Kopf war zu
sehen, und das Gesicht war teilweise verdeckt, aber nachdem Dalgliesh
einen prüfenden Blick darauf geworfen hatte, konnte er sie mit wenig
Mühe identifizieren. Er reichte Kate die Lupe und sagte: »Ja, das ist
Candace Westhall.«
Dann konzentrierte er sich auf den Artikel. Er war ein
schneller Leser, und es war nicht schwer, das Wesentliche zu erfassen.
Der Artikel war intelligent, gut geschrieben und sorgfältig
recherchiert. Er las ihn mit echtem Interesse und wachsendem Respekt.
Objektiv und fair, wie er fand, wurden darin Plagiatsfälle aufgeführt;
einige davon lagen lange zurück, andere waren neueren Datums, manche
waren weithin bekannt, viele waren ihm neu.
Rhoda Gradwyn hatte sich dafür interessiert, wie Sätze
manchmal unbewusst abgeschrieben werden und wie es zu den
gelegentlichen, merkwürdigen Zufällen in der Literatur kommt, wenn eine
starke Idee gleichzeitig in zwei Köpfen auftaucht, als wäre einfach die
Zeit dafür gekommen. Sie untersuchte, auf welche subtile Art und Weise
die bedeutendsten Schriftsteller Einfluss auf nachfolgende Generationen
ausgeübt hatten, ähnlich wie Bach und Beethoven in der Musik und die
größten Maler der Welt auf ihre Epigonen. Doch bei dem zentralen Fall
aus der Gegenwart, den der Artikel behandelte, ging es ganz eindeutig
um einen eklatanten Diebstahl geistigen Eigentums, auf den Rhoda
Gradwyn zufällig gestoßen war, wie sie angab.
Es war ein faszinierender Fall, denn allem Anschein nach
handelte es sich um eine talentierte junge Schriftstellerin von
bemerkenswerter Originalität, die es nicht nötig gehabt hätte, sich
anderweitig zu bedienen. Annabel Skelton, die noch an der Universität
studierte, hatte für ihren Debütroman viel Lob erhalten. Er war sogar
in die engere Auswahl für einen bedeutenden britischen Literaturpreis
gekommen. Einige Wendungen und Absätze mit Dialogen sowie eindrückliche
Beschreibungen waren Wort für Wort aus einem 1927 erschienenen Buch
einer längst vergessenen Autorin abgeschrieben, von der Dalgliesh noch
nie gehört hatte. In diesem Fall gab es jedoch nichts zu beschönigen,
nicht zuletzt, weil Rhoda Gradwyn für ihren Artikel so sorgfältig
recherchiert hatte. Er war zu einer Zeit erschienen, als den
Boulevardblättern gerade die Sensationen ausgegangen waren, und die
Presse hatte den Skandal aufgeblasen. Lautstark wurde gefordert,
Annabel Skeltons Roman nicht mehr für den Literaturpreis zu nominieren.
Das Ganze endete schließlich in einer Tragödie: Drei Tage nach
Erscheinen des Artikels beging das Mädchen Selbstmord. Wenn Candace
Westhall dem toten Mädchen nahegestanden hatte – als Geliebte,
Freundin, Dozentin, womöglich als Fan –, dann wäre das in
manchen Augen durchaus ein ausreichendes Motiv für einen Mord.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war Benton.
Dalgliesh schaltete sein Handy auf Lautsprecher, um Kate mithören zu
lassen. Benton konnte seine Aufregung kaum verbergen: »Wir haben
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