Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
nicht
vorstellen, dass Chandler-Powell oder Schwester Holland einer Patientin
das Leben aus dem Leib pressen, schon gar nicht einer, die frisch von
ihnen operiert wurde.«
Kate schien eine Replik auf der Zunge zu liegen, aber sie
sagte nichts. Es war spät, und Dalgliesh wusste, wie müde sie alle
waren. Es wurde Zeit, das Programm für den nächsten Tag festzulegen. Er
und Kate würden nach London fahren, um zu sehen, ob sich in Rhoda
Gradwyns Haus in der City Hinweise fanden. Benton und DC Warren würden
im Manor die Stellung halten. Dalgliesh hatte auf eine Vernehmung Robin
Boytons verzichtet, weil er hoffte, der Mann würde sich morgen wieder
beruhigt haben und zur Zusammenarbeit bereit sein. In der Reihenfolge
ihrer Bedeutung waren es Bentons und DC Warrens Aufgaben für den Tag,
Boyton zu verhören, wenn möglich den Wagen ausfindig machen, der in der
Nähe der Cheverell-Steine gesehen worden war, mit den Beamten der
Spurensicherung Verbindung aufzunehmen, die bis Mittag mit ihrer Arbeit
fertig sein müssten, für die Polizeipräsenz im Manor zu sorgen und
dafür, dass Mr. Chandler-Powells Sicherheitsleute sich vom Tatort
fernhielten. Dr. Glenisters Obduktionsbericht wurde für den Mittag
erwartet, und Benton sollte Dalgliesh sofort anrufen, wenn er ihn in
Händen hielt. Und neben diesen Aufgaben sollte er natürlich nach
eigenem Ermessen entscheiden, ob er einen der Verdächtigen noch einmal
befragen wollte.
Es war kurz vor Mitternacht, als Benton die drei Weingläser
zum Spülbecken in der Küche trug und er und Kate sich auf den Weg durch
die nach dem Regen süß duftende Dunkelheit zurück zum Wisteria House
machten.
Drittes
Buch 16.-18.
Dezember
London, Dorset, Midlands,
Dorset
1
D algliesh und Kate fuhren noch vor sechs Uhr
morgens aus Stoke Cheverell ab. Ihr zeitiger Aufbruch lag nicht allein
darin begründet, dass Dalgliesh es hasste, im morgendlichen
Verkehrsgewühl stecken zu bleiben, er benötigte auch die dadurch
gewonnene Zeit in London. Er musste Unterlagen, an denen er gearbeitet
hatte, im Yard abgeben, ein vertraulicher Berichtsentwurf, den er
kommentieren sollte, musste abgeholt werden, und er musste seiner
Sekretärin eine Notiz auf dem Schreibtisch hinterlassen. Nachdem er
alles erledigt hatte, fuhren er und Kate schweigend durch die beinahe
leeren Straßen.
Dalgliesh empfand die frühen Sonntagmorgenstunden in der City
als besonders reizvoll. Das ging vielen Menschen so. Fünf Wochentage
lang pulsiert die Luft, und die Stadt ist so energiegeladen, dass man
glauben könnte, ihr großer Reichtum würde in einem unterirdischen
Maschinenraum unter Schweiß und Anstrengung physisch erarbeitet.
Freitagnachmittag hören die Räder langsam auf, sich zu drehen, und man
sieht die Arbeiter aus der City zu Tausenden über die Themsebrücken zu
ihren Bahnhöfen schwärmen. Dieser Massenexodus ist jedoch weniger eine
Angelegenheit des Willens als vielmehr der Unterwerfung unter einen
jahrhundertealten Zwang. Weit entfernt davon, sich noch einmal schlafen
zu legen, harrt die City am frühen Sonntagmorgen still und gespannt auf
den Besuch einer Geisterarmee, von den Glocken herbeigerufen, um alte
Götter in ihren sorgsam bewahrten Schreinen zu verehren und durch
stille, erinnerte Straßen zu gehen. Selbst der Fluss scheint langsamer
zu fließen.
Wenige hundert Meter von der Absolution Alley entfernt fanden
sie einen Parkplatz. Dalgliesh warf rasch noch einen Blick auf den
Stadtplan und nahm seinen Spurensicherungskoffer aus dem Auto, bevor
sie sich in östlicher Richtung aufmachten. Den engen, gepflasterten
Eingang unter einem Steinbogen, der für so eine schmale Öffnung über
die Maßen verziert war, hätte man leicht übersehen können. Die zwei
Wandlampen, die den kleinen befestigten Vorplatz erleuchteten,
erzeugten allenfalls Dickenssche Düsternis. In der Mitte des Vorplatzes
stützte ein Sockel eine altersschwache Statue, die ursprünglich
vielleicht eine religiöse Bedeutung gehabt haben mochte, mittlerweile
jedoch zu einem formlosen Steingebilde verwittert war. Das Haus mit der
Nummer acht lag auf der östlichen Seite. Die Tür war in einem so
dunklen Grün gestrichen, dass sie beinahe schwarz wirkte. Ein eiserner
Türklopfer in Gestalt einer Eule war daran befestigt. Neben Hausnummer
acht befand sich ein Laden, in dem es alte Drucke zu kaufen gab; der
hölzerne Verkaufsständer vor der Tür war leer. Ein zweites Gebäude
beherbergte offenbar eine exklusive Stellenvermittlung, doch
Weitere Kostenlose Bücher