Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
für die kleine Gesellschaft im Manor war kein Ende der
Polizeipräsenz und der Vernehmungen abzusehen.
Dalgliesh hatte Verständnis für ihren wachsenden Unmut, denn
er selbst hatte das auch einmal erlebt, als er die Leiche einer
ermordeten jungen Frau an einem Strand in Suffolk gefunden hatte. Das
Verbrechen war nicht in seinem Zuständigkeitsbereich passiert, daher
hatte ein anderer Ermittlungsbeamter übernommen. Es stand zwar außer
Frage, dass er ernsthaft als Verdächtiger betrachtet wurde, aber das
Verhör ging ins kleinste Detail, die Fragen wiederholten sich, und er
empfand das als unnötig aufdringlich. Ein Verhör war ein unangenehmer
Eingriff in die Psyche.
»Im Jahr 2002 hat Rhoda Gradwyn einen Artikel über Plagiate
für den Paternoster Review geschrieben«, begann
er. »In diesem Artikel attackierte sie die junge Schriftstellerin
Annabel Skelton, die sich daraufhin das Leben nahm. In welcher
Beziehung standen Sie zu Annabel Skelton?«
Sie sah ihm in die Augen. Ihr Blick war kalt, und Dalgliesh
erkannte Abneigung und Verachtung darin. Ein kurzes Schweigen folgte,
in dem ihre Feindseligkeit knisterte wie Strom. Ohne den Blick von ihm
zu nehmen, sagte sie: »Annabel Skelton war eine liebe Freundin. Ich
würde sogar sagen, ich habe sie geliebt, nur würden Sie dann eine
Beziehung falsch interpretieren, die ich Ihnen wohl kaum begreiflich
machen kann. Heute scheint jede Freundschaft in Begriffen der
Sexualität definiert zu werden. Sie hat bei mir studiert, aber ihr
Talent lag im Schreiben, nicht in der klassischen Philologie. Ich habe
sie ermutigt, ihren ersten Roman fertigzustellen und ihn an einen
Verlag zu schicken.«
»Wussten Sie damals, dass Teile davon aus einem älteren Werk
abgeschrieben waren?«
»Möchten Sie wissen, ob sie es mir erzählt hat, Commander?«
»Nein, Miss Westhall, ich frage Sie, ob Sie es wussten.«
»Nein, erst nach der Lektüre von Rhoda Gradwyns Artikel.«
Kate mischte sich ein. »Das hat Sie sicherlich überrascht und
beunruhigt.«
»Ja, Inspector, beides.«
Dalgliesh fragte: »Haben Sie daraufhin irgendetwas
unternommen – haben Sie sich mit Rhoda Gradwyn getroffen,
haben Sie ihr oder dem Paternoster Review einen
Protestbrief geschickt?«
»Ich habe mit Rhoda Gradwyn gesprochen. Auf ihre Bitte hin
haben wir uns kurz im Büro ihrer Agentin getroffen. Das war ein Fehler.
Sie hatte natürlich überhaupt kein Einsehen. Ich möchte die
Einzelheiten dieser Begegnung lieber nicht darlegen. Damals wusste ich
nicht, dass Annabel bereits tot war. Sie erhängte sich drei Tage
nachdem der Paternoster Review erschienen war.«
»Sie hatten also keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, nach
einer Erklärung zu fragen? Es tut mir leid, wenn das schmerzhaft für
Sie ist.«
»Allzu leid wird es Ihnen auch wieder nicht tun, Commander.
Wir wollen doch ehrlich zueinander sein. Genau wie Rhoda Gradwyn tun
Sie nur Ihre widerwärtige Arbeit. Ich habe versucht, mit Annabel
Kontakt aufzunehmen, aber sie wollte mich nicht sehen, ihre Tür war
verschlossen, das Telefon tot. Ich hatte mit Rhoda Gradwyn Zeit
verschwendet, während es mir gleichzeitig hätte gelingen können, mit
ihr zu sprechen. Am Tag nach ihrem Tod bekam ich eine Postkarte. Nur
drei kurze Sätze standen darauf, ohne Unterschrift. Es tut
mir leid. Bitte vergib mir. Ich hab dich lieb. «
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Der abgeschriebene
Text war der unwichtigste Teil eines Romans, der außergewöhnlich
vielversprechend war. Aber ich glaube, Annabel hat begriffen, dass sie
nie wieder einen Roman schreiben würde, und das bedeutete den Tod für
sie. Und dazu kam noch diese Schmach. Auch das war mehr, als sie
ertragen konnte.«
»Haben Sie Rhoda Gradwyn dafür verantwortlich gemacht?«
»Sie war dafür verantwortlich. Sie hat meine Freundin
ermordet. Da ich annehme, dass es nicht ihre Absicht war, besteht wohl
keine Aussicht auf Sühne durch das Gesetz. Aber ich habe mich nicht
nach fünf Jahren dafür gerächt. Der Hass stirbt nicht, aber er verliert
etwas von seiner Kraft. Es ist wie eine Blutinfektion, die nie ganz
verschwindet und jederzeit unerwartet wieder aufflammen kann, aber das
Fieber wird im Lauf der Jahre immer schwächer, die Schmerzen geringer.
Mir blieben nur Bedauern und eine anhaltende Traurigkeit. Ich habe
Rhoda Gradwyn nicht getötet, aber es tut mir keine Sekunde leid, dass
sie tot ist. Beantwortet das die Frage, die Sie mir stellen wollten,
Commander?«
»Miss Westhall, Sie sagen, Sie haben
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