Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
hat? Hat er einer von Ihnen beiden etwas zuleide
getan?«, fragte Dalgliesh.
»Lucy hat er nichts getan. Er ist keiner von diesen
Pädophilen, wenn Sie das meinen. Er hat sie geliebt. Sie haben immer
gemeinsam in seinem Zimmer gelesen oder sind Süßigkeiten kaufen
gegangen. Sie war gern mit ihm zusammen, aber geliebt hat sie ihn
nicht. Sie mochte bloß gerne was Süßes. Und sie ist nur hoch zu ihm ins
Zimmer gegangen, weil das besser war, als mit mir und Oma in der Küche
zu sitzen. Oma hat ständig an uns rumgemeckert. Lucy hat geklagt, dass
Stephen so langweilig ist, aber mir war er wichtig. Ich habe ihn
geliebt. Schon immer. Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn noch einmal
sehe, aber jetzt ist er in mein Leben zurückgekommen. Ich will mit ihm
zusammen sein. Ich weiß, dass ich ihn glücklich machen kann.«
Kate fragte sich, ob Dalgliesh oder Mrs. Rayner auf den Mord
an Lucy zu sprechen kommen würden. Keiner von beiden tat es.
Stattdessen fragte Dalgliesh: »Sie haben also mit Mr. Collinsby
vereinbart, dass Sie beide sich am Parkplatz beim Steinkreis treffen.
Ich möchte, dass Sie mir genau erzählen, was dort passiert ist und
worüber Sie geredet haben.«
»Eben haben Sie gesagt, dass Sie schon mit ihm gesprochen
haben. Er muss Ihnen doch erzählt haben, was passiert ist. Ich verstehe
nicht, weshalb wir das alles noch mal durchkauen müssen. Gar nichts ist
passiert. Er hat mir erzählt, dass er verheiratet ist, aber er will mit
seiner Frau sprechen und sie um die Scheidung bitten. Und dann bin ich
zurück ins Haus, und er ist weggefahren.«
Dalgliesh fragte: »Und das war alles?«
»Na ja, wir konnten schließlich nicht die ganze Nacht im Auto
sitzen, oder? Ich habe einfach ein bisschen neben ihm gesessen, aber
wir haben uns nicht geküsst oder so. Man muss sich nicht küssen, wenn
man sich wirklich liebt. Ich wusste, dass er die Wahrheit sagt. Ich
wusste, dass er mich liebt. Also bin ich irgendwann ausgestiegen und
zurück ins Haus gegangen.«
»Hat er Sie begleitet?«
»Nein. Wieso auch? Den Weg kenn ich doch. Und überhaupt, er
wollte weg, das hab ich gemerkt.«
»Hat er irgendwann Rhoda Gradwyn erwähnt?«
»Natürlich nicht. Wieso hätte er das tun sollen? Er kannte sie
doch gar nicht.«
»Haben Sie ihm Schlüssel für das Manor gegeben?«
Nun war sie plötzlich wieder wütend. »Nein, nein, nein! Er hat
mich nie um irgendwelche Schlüssel gebeten. Was sollte er damit? Er ist
nicht einmal in die Nähe des Hauses gegangen. Sie versuchen ihm einen
Mord anzuhängen, weil Sie alle anderen schützen – Mr.
Chandler-Powell, Schwester Holland, Miss Cressett – sie alle.
Sie versuchen es Stephen und mir anzuhängen.«
Ruhig sagte Dalgliesh: »Wir sind nicht hier, um irgendjemandem
etwas in die Schuhe zu schieben. Unsere Aufgabe ist es, den Schuldigen
zu finden. Kein Unschuldiger hat etwas zu befürchten. Aber Mr.
Collinsby könnte durchaus in Schwierigkeiten geraten, wenn die
Geschichte mit Ihnen herauskommt. Ich glaube, Sie verstehen, wie ich
das meine. Wir leben in keiner freundlichen Welt, und die Leute könnten
die Freundschaft zwischen ihm und Ihrer Schwester sehr leicht falsch
interpretieren.«
»Na, sie ist aber doch tot, oder? Was können sie denn noch
beweisen?«
Mrs. Rayner brach ihr Schweigen. »Sie können nichts beweisen,
Sharon, aber Klatsch und Gerüchte fragen nicht lange nach der Wahrheit.
Ich glaube, wenn Mr. Dalgliesh mit seiner Vernehmung fertig ist,
unterhalten wir uns einmal über Ihre Zukunft nach diesem schrecklichen
Erlebnis. Sharon, Sie haben sich bisher sehr gut gemacht, aber ich
glaube, es ist an der Zeit für einen Ortswechsel.« Sie wandte sich an
Dalgliesh: »Könnte ich hier einen Raum benutzen, wenn Sie fertig sind?«
»Natürlich. Gleich gegenüber.«
»Mir soll's recht sein«, sagte Sharon. »Von der Polizei hab
ich die Nase voll. Von ihrer Fragerei und ihren blöden Gesichtern. Und
von diesem ganzen Laden hier. Wieso kann ich nicht jetzt gleich von
hier weg? Sie könnten mich doch mitnehmen.«
Mrs. Rayner hatte sich bereits erhoben. »Ich glaube, sofort
wird das nicht möglich sein, Sharon, aber wir tun unser Bestes.« Sie
wandte sich an Dalgliesh. »Vielen Dank, dass ich den Raum benutzen
darf. Sharon und ich werden ihn wahrscheinlich nicht lange benötigen.«
So war es, doch die etwa fünfundvierzig Minuten, die
vergingen, bevor sie wieder auftauchten, kamen Kate dennoch lang vor.
Sharon war nicht mehr aufsässig und verabschiedete sich von Mrs.
Rayner.
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